Dunkle Diamanten (Shades of Brilliance) (German Edition)
Gassen, Tor bögen und verschwiegene Gärten.
Robert hatte seit seiner Ankunft in Gedanken vergebens versucht, den Unterschied zwischen Berlin und London in Worte zu kleiden. Es war viel mehr als die architektonische Schönheit, viel mehr als die schiere Größe der Stadt, das Völkergemisch ihrer Bewohner oder die allgegenwärtigen Insignien einer amtierenden Dynastie. Auch Berlin hatte großartige Gebäude, stand an Größe und Einwohnerzahl London kaum nach, galt sogar seit einiger Zeit als brodelndes Reagenzglas der künstlerischen Avantgarde. Und doch erschien es Robert jetzt im Vergleich zu London irgendwie provinziell und auch ein wenig vulgär in seinem hektischen Verlangen, in die Elite der Metropolen vorzustoßen. Hier im Temple, zwischen der stillen Crown Office Row und dem King’s Bench Walk, fand er die Definition des Unterschieds, nach der er gesucht hatte. London hatte ein selbstverständliches Verhältnis zu Macht und Größe. Politik und Macht waren kein narzisstischer Selbstzweck, sondern disziplinierte, bewährte Mittel zur unermüdlichen Vertiefung und Absicherung der Handels- und Finanzströme dieser Insel mit angeschlossenem Weltreich. Common Sense war gefragter als pure Moral oder blanke Prinzipienreiterei, und das verschonte England seit Jahrhunderten vor dem Bad aus Blut und Tränen, in das die Staatsgebilde des gefährlich nahen Kontinents in regelmäßigen Abständen versanken. Common Sense und Common Law, durch deren Keimzelle Robert an diesem Nachmittag im verwinkelten Temple District wanderte, waren die untrennbaren Geschwister, auf denen Englands Überlegenheit basierte. Brücken wurden niemals völlig niedergebrannt. Der Feind von heute konnte ein wertvoller Handelspartner von morgen sein. Selbst besonders widerspenstige Fälle, wie die südafrikanischen Buren, wurden nach verlorener Schlacht geschickt in den Status der Souveränität überführt, letztendlich aber doch durch die lebenswichtigen Londoner Handels- und Finanzstränge an der Nabelschnur des Commonwealth gehalten. Ein solcher Spagat verlangte Diskretion und Beweglichkeit. Offene Muskelspiele wurden so lange wie möglich vermieden. Auch der Perfektionismus, dem Deutschland so inbrünstig huldigte, galt hier als nicht wirklich erstrebenswert. Das bewahrte die Stadt trotz all ihrer Pracht davor, plump und protzig zu wirken.
London war eine reiche, exzentrische alte Dame, die mit großer Selbstverständlichkeit zu ihrem kostbaren Kleid einen schrillen Hut und robuste Schuhe mit abgetretenen Absätzen trug, damit sie keine nassen Füße bekam. Robert begann gerade erst ein klein wenig hinter die Kulissen zu spähen. Er wusste noch nicht, dass er nur ein paar Stunden später seinen Kopf so weit durch den Türspalt stecken würde, dass er um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte.
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Es war ein beeindruckender Türspalt, in jeder Hinsicht. Als Robert mit Hans kurz vor neun Uhr abends das Foyer des Athenaeum Clubs betrat, fühlte er sofort, dass er nur ein Bauer auf dem schwarz-weißen Schachbrett des glänzenden Marmorbodens war. Er hob den Kopf und ließ die Augen über die gewölbte Kassettendecke wandern, für die die Kuppel des Pantheons Pate gestanden hatte. Überhaupt war man nicht zimperlich bei den Anleihen an die griechische und die römische Klassik gewesen und hatte deren Stilelemente mit großer Freizügigkeit in einer prachtvollen Melange verarbeitet, die jeden Neuankömmling, der nicht zur auserwählten Bruderschaft des Clubs gehörte, stumm aber unmissverständlich auf den Platz des lediglich Geduldeten verwies.
Ja, die Herren würden von Mr. Holborn in der Bibliothek erwartet. Die Treppe hinauf, nach rechts, am Ende des Korridors. Nicht zu verfehlen. Der eisgraue Herr im staatsmännischen Frack verneigte sich so exakt, als hätte er soeben als Premierminister einen Kranz an einem Kriegerdenkmal niedergelegt. Genauso exakt trat er dann einen Schritt zurück, um den Geduldeten den Weg zu der alles dominierenden Treppe freizugeben. Sie gabelte sich auf dem ersten Absatz, und hier stand, flankiert von vier Säulen, in luftiger Höhe ein makelloser Apollo in marmorner Nacktheit, nur von einem steinernen, aber dennoch schwerelosen Schultertüchlein umflattert. Sein erhobenes Götterhaupt, sein ausgestreckter Arm, die zur Faust geballte Hand wiesen den Weg hinauf zu Höherem, in jene Stockwerke, wo sich die Mitglieder des Clubs aufhielten.
Die Inszenierung des Architekten hatte auch bei Robert die
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