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Dunkle Ernte

Dunkle Ernte

Titel: Dunkle Ernte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Mockler
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Diskretion – für Geld bekam man hier alles. Er wedelte den Kellner mit einer Fünfzigpfundnote davon. Mit Trinkgeldern war er immer großzügig gewesen. Er konnte es kaum erwarten, die Tellerglocke zu entfernen. Seine beiden Assistenten schickte er aus dem Zimmer. Diese Lieblingsdelikatesse genoss er lieber allein.
    Das Fleisch verströmte ein Aroma von Gerbsäure und Eisen, dazu einen Hauch von Süße. Er hob den Teller an die Nase und atmete tief ein.
    Rohe Taubenherzen, satt rotbraun und noch erfüllt von der Körperwärme der Tiere, dazu Streifen von rohem Brustfleisch, mit einem Spritzer Zitrone und einer Prise Salz, hinuntergespült mit einem Glas warmen Reisweins. Es gab keinen anderen Geschmack, kein anderes Gericht, das ihn so unmittelbar in seine Kindheit in China zurückzuversetzen vermochte.
    Geboren in eine Familie einfacher Bauern in den Slums vor den Toren Schanghais, hatte er zwischen den Fäusten seines betrunkenen Vaters und den beißwütigen Hunden, die ihm die Gosse streitig machten, eine gefährliche Kindheit erlebt. Allein sein Geschick beim Vogelfangen hatte ihn vor dem frühen Hungertod bewahrt.
    Vom Hunger getrieben, hatte er sich damals eine Jagdlist ausgedacht, die ihm das Leben retten sollte. Eine gestohlene Dose mit scharf ätzendem Kleber unter dem Arm und mit einer Tüte Krumen in der Hand, die er in einer Bäckerei vom Boden geklaubt hatte, war er über ein Bambusgerüst an einem der neuen Bürotürme hochgeklettert. Dann hatte er auf einem Teil des Dachs den Kleber verteilt und die Krumen daraufgestreut. Bei einer nahen Lüftungsöffnung war er auf Beobachtungsposten gegangen, während es in seinem Magen schmerzvoll rumorte. Er hatte nicht lange warten müssen, bis mit wippendem Kopf eine Taube angetrippelt kam, gurrend in naiver Freude. Als ihr Fuß am Kleber hängen blieb, hielt sie verwirrt inne und gurrte lauter. In dem Moment hatte er sich auf sie gestürzt, ihr den Hals umgedreht, mit den Fingernägeln gierig ihren gefiederten Körper aufgerissen und seine Zähne in ihre knackenden Knochen geschlagen, das schmutzstarrende Gesicht von warmem Blut verschmiert.
    Monsieur Blanc tupfte sich den Mund vorsichtig mit der Stoffserviette ab. Die Herzen und das Brustfleisch schmeckten ihm heute noch genauso gut wie damals.
    Erst vor ein paar Monaten war er zu Geschäftszwecken nach Schanghai gereist. Die Stadt hatte sich so sehr verändert, dass er sie kaum wiedererkannt hatte. Wolkenkratzer aus Glas und Stahl schossen in den Himmel, als wollten sie der Welt bildhaft demonstrieren, wie hoch das Land hinauswollte. Unten auf den Straßen hetzten die Menschen in Anzug und Krawatte umher und sprachen hektisch in ihre Mobiltelefone, selbstbewusst und aggressiv in ihrem Auftreten und in ihrem Umgang miteinander.
    Aus einer Laune heraus hatte er die katholische Mission gesucht, die ihn als Kind aufgenommen hatte. Sie war noch da, wo sie immer gewesen war, in dem viktorianischen Gebäude aus rotem Backstein, das jetzt zwischen hohen Beton-und Glasbauten eingekeilt war. Angesichts der großzügigen Spenden, die er jährlich fließen ließ, war das auch nicht verwunderlich. Sie hatten ihn von der Straße aufgelesen, hochgepäppelt und ihm eine gute christliche Erziehung angedeihen lassen. Englisch, Französisch und Bibelkunde hatten täglich auf seinem Stundenplan gestanden. Warum sie ausgerechnet ihn und nicht einen der anderen zahllosen halbverhungerten Straßenjungen aus den Seitengassen und Hinterhöfen der Stadt genommen hatten, wusste er nicht. Vielleicht hatte er einfach am verlorensten gewirkt und das meiste Mitleid erweckt. Auf jeden Fall wurde er ein hervorragender Schüler, der seine Wohltäter mit seiner schnellen Auffassungsgabe verzückte und sie dadurch irgendwie in ihrem missionarischen Drang bestätigte. Sie dankten es ihm mit Kuchen und süßen Gebäckstücken, die regelmäßig jeden Samstagnachmittag frisch gebacken wurden.
    Die katholische Kirche hatte ihn schließlich zum Studium nach Paris geschickt. Man hatte großes Interesse daran gehabt, Chinesen für das Priesteramt zu gewinnen, die das Wort Gottes im eigenen Land verbreiten sollten. Diese Chance, zu reisen und in einer Stadt wie Paris zu leben, konnte er sich nicht entgehen lassen. Er wollte sich gern zum Glauben an ihren goldlockigen Jesus bekennen und für ihn zum Menschenfischer werden, wenn er dadurch den Slums von Schanghai für immer entkam.
    Doch Paris hatte andere Pläne mit ihm. Kaum zwei Wochen nach seiner

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