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Dunkle Ernte

Dunkle Ernte

Titel: Dunkle Ernte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Mockler
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einen Ast erreichte, der dick genug war, um ihn zu tragen, schwang er sich darauf und schüttelte die Glieder aus, damit wieder Blut in die verkrampften Muskeln gelangte. Von hier aus ließ es sich leichter klettern, da waren jede Menge Äste, und er musste sich nicht mehr nur allein mit dem Oberkörper halten. Er zog sich weiter hoch, streckte, klammerte, hievte sich mit aufgerissenen Händen dem grünen Dach des Dschungels entgegen. Als sich das Laub lichtete, hielt er inne, die Arme um den Baumstamm geschlungen. Hinter dem Blättervorhang öffnete sich die weite Landschaft.
    Der Anblick raubte ihm den wenigen Atem, der ihm geblieben war. Dampf stieg aus dem dichten Blätterdach auf, und die Sonne teilte die dicke graue Decke aus Regenwolken. Der Himmel war in ein zauberhaft überirdisches Licht getaucht. Vögel segelten an Jack vorbei. Es war eine andere Welt, vollkommen mit sich im Gleichgewicht und gänzlich unabhängig vom Menschen. Sie zu sehen gab ihm ein Gefühl von Erhabenheit und Stärke, doch gleichzeitig fühlte er sich klein und unbedeutend.
    Jack atmete tief durch und sog die Morgenluft in seine Lunge. War es das, was die feinen Pinkel aus Cambridge erlebten, wenn sie in einem Freisemester das Abenteuer suchten? Wohl kaum. Beim Gedanken an die Uni fiel ihm mit Macht Amanda ein, und schmerzliche Sehnsucht stieg in ihm auf, mit einer Intensität, die ihn selbst überraschte. Die Vorstellung, sie nie mehr wiederzusehen, sie nie mehr im Arm halten zu können, war schrecklicher als alles, was der Dschungel noch an Überraschungen für ihn bereithalten mochte.
    In der Ferne stieg eine dünne Rauchfahne aus den Bäumen hoch, ein Hinweis auf ein Camp, auf die Gegenwart von Menschen. Die Aussicht auf ein Frühstück am frühmorgendlichen Feuer und ein wenig Trockenheit nach dem nächtlichen Regenguss erschien ihm wie eine Verheißung. Was war das? Ein kongolesisches Dorf? Ein Milizencamp? Wie weit war es bis dorthin? Und wo genau lag es überhaupt? Es sah aus, als gäbe es eine Art Pfad in die Richtung; der Dschungel schien entlang einer gedachten Linie weniger dicht zu sein, so als wäre das gleichmäßige Grün des Blätterdachs durchgeschnitten. Es war auf jeden Fall seine größte Chance. Ein Tagesmarsch höchstens – jedenfalls solange der Untergrund einigermaßen passierbar war. Wenn es ein Dorf war, würde er etwas zu essen bekommen und einen Führer, der ihn aus dem Dschungel geleiten konnte. Dafür würde er sich erkenntlich zeigen. Wenn es ein Milizencamp war, würde er versuchen zu stehlen, was er an Essen und Waffen brauchte.
    Jack setzte sich rittlings auf den Ast und klammerte sich mit den Beinen fest. Er zog sein Hemd aus und riss zwei Stoffstreifen davon ab. Seine Hände waren vom Klettern an den Lianen aufgescheuert und steckten voller Splitter. Er versuchte sie mit den Zähnen aus der Haut zu ziehen, um in der feuchten Hitze des Dschungels keine Infektion zu riskieren. Dann wickelte er den Stoff um seine Hände und machte sich an den Abstieg.
    Nbotous Leibwächter mussten mit Macheten einen Pfad durch den Dschungel schlagen, obwohl diese Route regelmäßig benutzt wurde: Zweimal im Monat schleppten die Truppen des Generals das Coltan, das in den Minen gefördert oder gestohlen wurde, hier entlang. Doch der Dschungel brauchte jedes Mal nur wenige Tage, um den schmalen Streifen wieder in Besitz zu nehmen.
    Der General hörte die Gesänge, lange bevor er das Camp erreichte. Das vielstimmige Siegesgeheul drang schon von weitem durch die Bäume – sein Name, aus zahllosen Kehlen skandiert. Nbotou ging langsam über die Straße auf sie zu. Er genoss den frenetischen Jubel, den sie ihm entgegenbrachten, die Waffen in die Luft gereckt.

61
    Oliver Denbigh verfolgte die improvisierte Siegesparade. Die Anweisungen seines Oberbefehlshabers hatten sich als erstaunlich nützlich erwiesen. Die beiden Granaten hatten die Gegner am Boden zerfetzt und den Baumstamm mit ohrenbetäubendem Bersten gespalten, sodass er sich den benachbarten Bäumen entgegenbog. Denbigh hatte sich festgeklammert, während er wie auf einem sinkenden Schiff an Lianen und Ästen vorbeirauschte. In einem Winkel von etwa siebzig Grad wurde der Stamm schließlich von einem Blauen Eukalyptus aufgefangen, in den Oliver hinüberkletterte. Er nahm mit, was er an Ausrüstung tragen konnte, und versuchte sofort eine Position zu finden, die ihm Deckung gab und trotzdem einen Blick auf das Camp ermöglichte.
    »Haben Sie es geschafft?«,

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