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Dunkle Ernte

Dunkle Ernte

Titel: Dunkle Ernte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Mockler
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Larven.
    Ob er sie essen konnte? Sie wären eine gute Energiequelle, aber das verwesende Fleisch, an dem sie sich gütlich taten, war voller Bakterien. Er müsste sie vorher abkochen. Doch dafür war keine Zeit. Nicht in dieser Hitze, nicht mit der fiebrigen Stirn und dem brennenden Gefühl in seinen Adern.
    Doch die Wunde in seiner Seite musste dringend gereinigt und die Infektion behandelt werden. Er wandte sich wieder dem halb verwesten Kadaver zu. Und wenn er sich ein paar Maden schnappte und auf seine Wunde legte, damit sie das abgestorbene Fleisch fraßen? Theoretisch sollte das funktionieren; sein Vater hatte die Methode einmal in einer seiner Schauergeschichten erwähnt. Aber wie stellte man so etwas praktisch an? Von plötzlichem Schwindel erfasst, griff Jack sich an die Stirn. Reiß dich zusammen , ermahnte er sich und näherte seine Hand dem toten Tier. Der Gestank drehte ihm fast den Magen um. Die Eingeweide waren zerfetzt, und ein Fliegenschwarm schwirrte ärgerlich summend auf, als er versuchte eine Handvoll Maden zu greifen. Sie krümmten und wanden sich in seiner Handfläche. Er musste sich schwer zusammennehmen, um sie nicht mit aller Kraft sofort in den Dschungel zu schleudern.
    Der Anblick der wimmelnden Larven in seiner Hand brachte Jack fast aus dem Gleichgewicht, als er aufstand, und ein Würgereflex schnürte ihm die Kehle zu. Er steckte sie in seine Hemdtasche und taumelte weiter. Er musste immer in Bewegung bleiben und so weit wie möglich kommen. Rasten würde er erst, wenn sein Körper ihm endgültig den Dienst versagte. Dann würde er sich einen Baum mit einem dicken Ast suchen, auf den er klettern konnte. Dort würde er den Maden Zeit geben, das abgestorbene Fleisch aus der Wunde zu fressen.
    Zäh verstrich die Zeit. Jack hielt regelmäßig an, um sich Flüssigkeit zuzuführen, doch sie kühlte nicht mehr und konnte das heiße Brennen in seiner Kehle nicht mehr lindern. Die Formen des Urwaldes begannen sich zu verwandeln, und Pflanzen nahmen menschliche Gestalt an. Ein großer dünner Baum mit abstehenden Ästen erinnerte Jack an seinen Tutor in Cambridge. Du musst dich mehr anstrengen, Jack, du musst dein Potenzial voll ausschöpfen, lass dir die Chance nicht entgehen , hörte er ihn salbungsvoll predigen. Jack duckte sich, als plötzlich ein Ast zum Schlag gegen ihn ausholte. Sein Gegner aus dem Uni-Boxkampf, den er k.o. geschlagen hatte, beäugte ihn streitlustig. Komm schon, Jack, du hast doch nicht ernsthaft geglaubt, dass ich mich auszählen lasse? Immer mehr Stimmen mischten sich in die Geräusche des Waldes. Baumstämme morphten in menschliche Wesen, die auf ihn zukamen. Exfreundinnen fragten, warum er sich nie wieder gemeldet habe, alte Lehrer prophezeiten ihm, dass er es im Leben nie zu etwas bringen würde.
    Dann erschien sein Bruder Paul.
    Paul sagte nichts, sondern stand einfach nur regungslos vor ihm. Der Lärm der Stimmen verebbte, die anderen Figuren verschwanden. Jack blieb stehen. Sein Bruder und er, sie waren ganz allein zwischen den mächtigen Bäumen. Er spürte, wie sein Herz in seiner Brust hämmerte. Das Gesicht, das ihm entgegenblickte, hatte die kränklich graue Tönung einer Wachsfigur, und von seinen Fingern troff Wasser. Jack ging langsam auf seinen Bruder zu, um ihn aus nächster Nähe ansehen zu können, und streckte ihm die Hand entgegen. Pauls Mund bewegte sich, aber es kam kein Laut heraus. Als er hustete, strich sein Atem kühl über Jacks Wange. Jack wandte sich instinktiv nach seinem Vater um. Er war wieder acht Jahre alt.
    »Dad, Dad, es ist Paul, ich habe ihn gefunden, er ist hier, es geht ihm gut, er hat sich nur versteckt«, rief er den Bäumen zu. »Paul ist hier, er ist hier!« Er würde heimlaufen und Hilfe holen, es war nicht weit, und diesmal würden sie sofort ins Krankenhaus fahren. Diesmal würde sein Bruder wieder gesund werden. »Dad! Dad!«, schrie er in den Dschungel. »Paul ist hier! Wir können ihn gesund machen, er wird wieder gesund!«
    Dann stand sein Vater vor ihm, die Hände in die Hüften gestemmt.
    »Hier entlang, Dad, wir müssen zurück, wir müssen den Weg zurückgehen, um Paul zu holen«, sagte Jack und nahm ihn bei der Hand.
    Archie schüttelte den Kopf. »Lass gut sein, Junge.«
    Jack spürte, wie er hochgehoben wurde und sein Vater ihn sich über die Schulter lud. Es war nicht deine Schuld , hörte er ihn wie aus weiter Ferne hinzufügen, ehe er das Bewusstsein verlor.

63
    Batley Hall, Hertfordshire, England
    Harvey

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