Dunkle Ernte
Verwaltung. Hier versuchen wir zahlenmäßig den Überblick über das Lager zu behalten. Eine Vorstellung davon zu bekommen, welche Probleme noch auf die Region zukommen und welche Dimensionen sie haben. Marie hilft Ihnen am Computer.«
Eine abgeklärt dreinblickende Frau Anfang vierzig stand auf, um ihn zu begrüßen. Sie sah aus, als hätte sie Wichtigeres zu tun, als sich um Jack zu kümmern, dennoch lächelte sie, als sie ihm die Hand gab. »Der Heldentenor von gestern Abend? Sie haben ein ganz beachtliches Organ. Ich lasse Sie mit meinem Passwort ins Internet. Zum E-Mail-Versenden dürfte der Empfang hier ausreichen.«
64
Cambridge, Jesus Lane, Dienstagmorgen
Als Amanda von der Nachtschicht nach Hause kam, hängte sie ihren Mantel im Flur auf und schleppte sich nach oben in ihr Zimmer, um sich auf dem Bett auszustrecken. Auf der Treppe kam ihr der Freund ihrer Mitbewohnerin in Joggingkleidung entgegen.
»Morgen, Mands«, murmelte er und zog sich die Kapuze über den Kopf. »Kalt draußen?«
Amanda legte die Stirn in Falten. Sie hatte nicht darauf geachtet. »Keine Ahnung. Schon möglich.« Langsam und vorsichtig öffnete sie ihre Tür. Seit dem, was letzte Woche passiert war, war sie ständig auf der Hut. Es hatte keinerlei polizeiliche Ermittlungen zu dem Gemetzel auf dem Bürgersteig gegeben, wo noch immer Blutflecken auf dem Pflaster zu sehen waren. Niemand hatte Nachforschungen zu dem gestohlenen Lkw von British Gas angestellt. Selbst die Lokalpresse hatte es aufgegeben, über den Brand bei Marcon Pharmaceuticals zu berichten, und sich mit der Erklärung der Ermittler zufriedengegeben, dass auslaufende Chemikalien und ein Kabelbrand das Feuer ausgelöst hätten.
Liefen diese Dinge wirklich so ab? War es möglich, dass jemand vollständig ausgelöscht werden konnte, einfach so? Sie hatte Angst um Jack. Er war wild entschlossen gewesen, auf Sir Clives ominösen Vorschlag einzugehen. Sie hatte sich gar nicht erst bemüht, ihn davon abzubringen oder ihn zu fragen, was genau sein Auftrag sein würde. Er hätte sich ohnehin nicht abhalten lassen.
Sie zog die Vorhänge zu, obwohl die Februarsonne noch kaum Kraft hatte. Ein paar Stunden Schlaf müssen jetzt sein, dachte sie und fuhr ihren Laptop hoch. Morgens und abends ihre E-Mails zu checken war ihr zum täglichen Ritual geworden, obwohl sie nicht wirklich damit rechnete, von Jack zu hören. Aber sie würde die Hoffnung nicht aufgeben. Sie tippte ihr Passwort ein und wartete, bis die eingehenden Nachrichten auf dem Monitor erschienen.
Da waren die üblichen Spams – irgendjemand versprach lukrative Geldanlagemöglichkeiten in Nigeria, fantastische Lotteriegewinne oder neue Wunderdiäten – und dazwischen ein Newsletter vom Lacrosse-Team. Sie klickte halbherzig auf den Junkmail-Ordner, um ihn unbesehen zu leeren, da fiel ihr Blick auf einen ungewöhnlichen Absendernamen. Sie öffnete die Mail und las:
Hi, Mands,
es gibt so viel zu berichten, abgefahrene Geschichten, die man noch den Enkeln erzählen kann. Jetzt nur so viel: Ich lebe (noch), trotz Sir C. – ein absolutes Fiasko. Schreibe aus einem Flüchtlingslager zwischen Uganda und Kongo (frag nicht), ein elendes Drecksloch. Keine Ahnung, wie ich hierhergekommen bin, aber in ein bis zwei Wochen sollte ich wieder zu Hause sein. Wird nicht so einfach ohne Papiere. Du fehlst mir … echt … Muss was mit deinen Therapiemethoden zu tun haben ;-)
Alles Liebe
J.
Er hatte nicht einmal die Signatur am Ende der Mail entfernt: Marie Hoogstraff, Hilfskoordinatorin, Rotes Kreuz, Demokratische Republik Kongo, Afrika . Wahrscheinlich hatte er ihren E-Mail-Account benutzt. Amanda las die Mail noch einmal. Demokratische Republik Kongo . Sollte sie antworten oder besser gar nicht reagieren? Wie lange würde Jack überhaupt noch dort sein? Sie empfand eine Mischung aus Erleichterung, Wut und Euphorie. Was sollte die Bemerkung mit den Enkeln? War das eine Liebeserklärung? Lächelnd druckte sie die Mail aus. Vielleicht überlegte er bei nächster Gelegenheit zweimal, ehe er sich Hals über Kopf in die Probleme anderer Leute einmischte.
65
Flüchtlingscamp Nummer 17, Demokratische Republik Kongo
Jack versuchte den Jungen mit dem Ball zu tackeln, aber der ließ ihn einfach stehen und sprintete unter dem Gelächter der anderen Kinder auf das Tor zu. Mit erhobenen Händen beklatschte Jack den Schuss. Er war nicht wirklich in der Verfassung, um hinter einem Fußball herzurennen, aber er hing nicht mehr am Tropf und
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