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Dunkle Ernte

Dunkle Ernte

Titel: Dunkle Ernte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Mockler
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Erinnerungen an die letzten Stunden waren verwirrend. Er hatte keine Ahnung, wie er hierhergekommen war.
    »Habe ich mich irgendwie blamiert?«, fragte er.
    Der Arzt schüttelte den Kopf. »Nein. Aber Sie haben durch die fiebrige Infektion bedingt halluziniert. Sie waren felsenfest davon überzeugt, dass Ihr Vater da sei. Haben immer wieder gefragt, ob wir ihn nicht auch sehen könnten.« Er unterbrach sich. »Und dann haben Sie angefangen, aus vollem Hals zu singen.«
    Jack musste fast lächeln. Der Doc sah ziemlich desillusioniert, aber nett aus. Unter seinen schweren Lidern blickten seine Augen kritisch über den Rand einer eckigen Brille. Sein sauber getrimmter Bart machte ihn älter, als er war. Jack schätzte ihn auf Anfang dreißig.
    »Jack Hartman, freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte er und hielt dem Mann die Hand entgegen.
    Der Arzt ergriff sie und schüttelte sie vorsichtig. »Ich nehme an, Sie wollen uns nicht verraten, was Sie da im Dschungel getrieben haben?«, fragte er.
    Jack schwieg. Von den Varianten, die er vorhin mitbekommen hatte, gefiel ihm die erste am besten. Der verirrte Ökotourist.
    »Es war ein Abenteuerurlaub. Ist ganz schön in die Hose gegangen«, erklärte er in reumütigem Ton. »Haben Sie hier Telefon? Es gibt ein paar Leute, die sich bestimmt Sorgen um mich machen. Ich sollte dringend mal zu Hause anrufen.«
    Der Arzt schüttelte den Kopf. »Unsere Telefone wurden letzte Woche gestohlen«, sagte er seufzend. »In einem Flüchtlingslager ist Kriminalität leider genauso verbreitet wie überall sonst auch. Es gibt aber ein paar Laptops, Sie können also E-Mails verschicken. Am Donnerstag kommen Lkws mit Hilfsgütern, die bringen einen Schwung neuer Geräte mit.«
    Jack nickte. »Was für ein Tag ist heute?«, fragte er.
    Der Arzt hob die Brauen. »Dienstag.«
    »Alles klar«, sagte Jack und stemmte sich in eine sitzende Position hoch, um an den Rand des Bettes zu rutschen.
    »Augenblick mal, was haben Sie vor?«
    »Ich will an einen Ihrer Laptops, wo finde ich die?«, fragte er und nahm den Infusionsbeutel vom Ständer.
    »Auf der anderen Seite des Camps, aber Sie sollten jetzt noch nicht aufstehen. Sie müssen den Antibiotika ein paar Tage Zeit geben, die Entzündung in Ihrem Körper zu bekämpfen.«
    Jack schob ihn zur Seite. »Ich muss jetzt nach Hause mailen, und Sie zeigen mir, wo ich das tun kann.«
    Der Arzt hob eine Braue und zuckte mit den Schultern. »Wie Sie wollen. Hier entlang.« Er hob die Plane, die den Eingang des Zeltes verdeckte, und Jack trat nach draußen und blinzelte ins Tageslicht.
    Auf das, was er sah, war er nicht vorbereitet. Als der Arzt von Flüchtlingslager gesprochen hatte, hatte er sich ein paar saubere Zeltreihen vorgestellt, geordnete Warteschlangen vor Klapptischen, an denen Reis in Schälchen ausgegeben wurde. Stattdessen blickte er auf Hunderte von niedrigen, primitiven Strohhütten, die an zottelige Yaks erinnerten, die im schwarzen Schlamm lagen. Manche waren mit blauen Plastikplanen abgedeckt, auf denen noch ein verblichenes UNO-Logo zu erkennen war wie ein fast vergessenes Versprechen – die Schutzhüllen der Hilfspakete, die von Hubschraubern abgeworfen worden waren. Vor den Hütten hockten in den zerlumpten Überresten westlicher Markenware die Menschen, die ihr Zuhause verloren und hier ihre letzte Zuflucht gefunden hatten.
    Der erbarmungswürdige Anblick löste in Jack kein Mitleid, sondern blanke Wut aus, Wut auf Clement Nbotou, Sir Clive und Monsieur Blanc. Menschen wie sie trugen die Schuld an diesem Elend.
    Er wandte sich an Dr. Murcia. »Wo sind die Soldaten? Das ist doch eine ziemlich instabile Region, sollten da nicht Blauhelme vor Ort sein?«
    »Die sind letzte Woche abgezogen. Es gehen Gerüchte um, dass es zu weiteren Unruhen kommen wird. Auch von den Kongolesen sind einige in Panik geraten und geflohen.«
    »Aber Sie sind noch hier«, stellte Jack fest.
    Dr. Murcia nickte. »Wider besseres Wissen sind mein Kollege Dr. Valentine und ich hiergeblieben.« Er warf einen kurzen Blick über das Camp. »Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Wir sind keine Heiligen. Dr. Valentine hat eine gutgehende Praxis in Basel, und ich arbeite als plastischer Chirurg in Barcelona. Wir sind nur für einen Monat hier. Mehr aus schlechtem Gewissen als wegen der guten Absichten.«
    Jack betrachtete den Mann näher und beschloss ihm kein Wort zu glauben, beließ es aber dabei.
    »Hier.« Dr. Murcia deutete auf ein Zelt und trat ein. »Das ist unsere

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