Dunkle Flut
sagte Seherin. »Das spricht für dich. Aber Segen und Gabe sind schon so gut wie tot. Man kann sie nicht mehr retten. Nur Anmut wird leben, um Mutter zu sehen.«
»Du irrst dich«, sagte Soldat. Seine Hand wanderte zum Heft seines Lichtschwerts. Er würde Läufer töten, wenn er dazu gezwungen war. Aber würde er auch Seherin umbringen? War er dazu imstande?
»Ich irre mich nicht«, sagte Seherin. »Und das weißt du. Das waren Mutters Worte, Soldat. Zweifelst du sie an?«
Soldat wandte den Blick nicht ab, aber ebenso wenig wagte er es, sich mit ihr zu streiten. »Ich gebe jedem von ihnen eine Dosis Adrenalin. Wenn sie das wachrüttelt, kommen sie mit.«
Seherin lächelte. »Das ist akzeptabel.«
»Ich brauche deine Erlaubnis nicht«, sagte Soldat.
Läufer knurrte, und Soldat wirbelte zu ihm herum, bis sie Nase an Nase standen. »Willst du irgendetwas sagen? Oder tun?«
Läufer starrte ihn mit blutunterlaufenen Augen an. Sein Atem stank faulig, die Atmung ging schwer.
»Kümmere dich um die Injektionen, Soldat«, sagte Seherin. »Es wird so sein, wie ich es gesagt habe.«
Soldat ließ Läufer stehen und fischte die Adrenalininjektoren aus ihren Vorräten.
»Ich verabreiche sie den Kindern.« Er warf Läufer einige der Spritzen zu. »Du gibst sie den anderen.«
Läufer sah Seherin um Führung heischend an, und sie sagte: »Tu, was er sagt.«
Soldat ging zu Segen. Ihr schütteres blondes Haar hing über einem viel zu blassen Gesicht. Er war sich nicht sicher, ob sie noch atmete. Er zog sie zu sich heran, lauschte auf ihren Herzschlag und hörte keinen. Er nahm ihre winzigen Hände in seine. Sie wirkten so zerbrechlich, so fragil. Tränen stiegen ihm in die Augen, und er drückte sie fest an sich. Sie wurde bereits kalt.
»Leb wohl«, sagte er und dachte an ihr Lächeln.
»Sie ist schon fort«, versicherte Seherin. »Sie ist zu Mutter gegangen.«
»Halt den Mund«, sagte Soldat und schluckte seine Schluchzer herunter. »Halt deinen Mund.«
»Ich spüre deinen Schmerz«, meinte Seherin sanft. »Es tut mir leid, Soldat.«
Soldat sah nach Gabe und stellte fest, dass auch er der Krankheit erlegen war. Soldat starrte ihm lange ins Gesicht. Er hatte seine Hoffnung – unkoordinierte, unausgeformte Hoffnung, ohne Ziel oder irgendeine besondere Erwartung, aber nichtsdestotrotz Hoffnung – an den Kindern festgemacht. Vergebens. Sinnlos.
Er machte sich nicht die Mühe, seine Tränen fortzuwischen. Er ließ sie als Zeichen seiner Trauer auf dem Gesicht. »Bei welcher Glaubensprüfung hat er versagt, Seherin? Bei welcher Prüfung? Er war noch ein Junge.«
Seherin antwortete ihm nicht.
Benommen und gefühllos ging er zu Anmut. Als er feststellte, dass sie noch lebte, war es, als wäre er wiederauferstanden. Seine Tränen verdoppelten sich.
»Sie ist am Leben«, sagte er aufgeregt. Mit einer zittrigen Hand injizierte er ihr das Adrenalin, und sie keuchte, atmete tief ein. Erleichterung durchflutete ihn, als er zusah, wie sich ihre Brust hob und senkte. Er hob sie hoch und umarmte sie fest.
»Zwei-Klingen ist fast tot«, sagte Läufer hinter ihm. »Jägerin scheint es besser zu gehen.«
»Lasst Zwei-Klingen hier«, sagte Seherin. »Und Segen und Gabe auch. Nehmt Jägerin mit.«
»Nein«, sagte Soldat und wirbelte zu ihr herum. »Wir lassen die Kinder nicht im Stich.«
»Es sind nicht deine Kinder«, sagte Läufer.
»Es sind unsere Kinder«, spie Soldat über die Schulter. »Seherin?«
»Sie sind zu Mutter gegangen«, sagte Seherin. »Ihre Leiber sind nicht von Belang.«
»Für dich«, sagte Soldat.
»Für sie«, entgegnete Seherin. »Wir müssen uns beeilen, Soldat. Wir können die Toten nicht mitnehmen, bloß die Lebenden.«
Er starrte Segen und Gabe an und wusste, dass sie recht hatte. Er hasste sie dafür, dass sie recht hatte. Er drehte sich um und ließ seinen Zorn an Läufer aus. »Ein Wort über sie, und du stirbst.« Er trat vor und drängte sein Gesicht dicht vor Läufers. »Nur ein Wort … Lass es darauf ankommen, Läufer.«
Kaum kontrollierte Emotionen sorgten dafür, dass Läufers Auge krampfhaft zuckte. Vor Wut zog er die Lippen von den Zähnen zurück.
Gleichwohl, das war nur ein schwacher Vergleich zu dem, was Soldat empfand. Kummer nährte seinen Zorn, verstärkte ihn. Er würde Läufers Inneres nach außen kehren, in seinem Blut baden …
»Es reicht«, sagte Seherin. »Es sind schon zu viele umgekommen. Es reicht, Soldat.«
Ohne seinen Blick von Läufer abzuwenden, sagte er zu
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