Dunkle Gebete
Beide Hände waren auf meinem Kopf, als versuche sie, mich unterzutauchen. Meine Schwimmweste hatte sich Sekunden, nachdem ich im Wasser gelandet war, aufgeblasen, doch ich war mir nicht sicher, ob sie ausreichen würde, um uns beide über Wasser zu halten. Nicht bei der fast dämonischen Kraft, die Menschen haben, wenn sie um ihr Leben kämpfen.
Ich würde dasselbe tun müssen.
Endlose Sekunden lang rangen das Mädchen und ich im Fluss. Ich ging mehrmals unter. Jedes Mal gelang es mir, mich wieder an die Oberfläche zu strampeln, doch ich spürte, wie ich kälter und schwächer wurde. Sie dagegen hatte noch die Kraft zu schreien. Sie stieß entsetzte Tierschreie aus, die mir jedes Mal in den Ohren gellten, wenn mein Kopf aus dem Wasser tauchte.
»Lacey!«
Ein anderes Geräusch, direkt über mir. Ich blinzelte Flusswasser fort und begriff, dass ich nur einen Meter von einem stumpfweißen Rumpf mit blauen Streifen entfernt war. Wir waren am Boot. Sie hatten uns an dem Drahtseil herangezogen. Das Mädchen hatte das Boot auch gesehen, und ihre Panik richtete sich jetzt auf die Männer über ihr. Ich spürte, wie ihr Fuß hart gegen mich trat, und dann wurde sie hochgezogen, über die Reling gehievt und verschwand.
»Geben Sie mir Ihre Hand, Lacey!« Ich schaute hoch und erblickte Sergeant Wilson, der den Arm zu mir hinunterstreckte; und irgendwie schaffte ich es, erst die eine Hand zu heben und dann die andere. Gleich darauf baumelte ich über dem Wasser, und im Handumdrehen war ich wieder in der Kabine, in eine silberne Wärmedecke gehüllt. Ich bibberte wie eine Portion Götterspeise auf einer Waschmaschine, und das Innere meines Mundes fühlte sich an, als hätte ich reines Maschinenöl geschluckt.
Die beiden Flüchtlinge kauerten auf der anderen Seite der Kabine auf einer anderen Bank. Keiner reagierte irgendwie darauf, dass ihm Handschellen angelegt und seine Rechte vorgelesen wurden. Als es vorbei war, sahen wir drei in unseren Foliendecken aus wie ofenfertige Truthähne, und ich verspürte den höchst albernen Drang, laut loszulachen. Die Kabinentür öffnete sich, und Joesbury kam herein. Er achtete nicht auf die anderen, sah nur mich an. Ich stellte fest, dass ich lächeln konnte.
»Können wir jetzt ins Dampfbad gehen?«, fragte ich.
55
»Was ist das Schlimmste, was dir passieren könnte, Karen?«
Das hier, denkt Karen Curtis, die Augen fest geschlossen. Das hier ist das Schlimmste, was mir passieren könnte.
»Die meisten Menschen antworten auf diese Frage dasselbe, ist dir das schon aufgefallen?«, fragt die Stimme, die an ihrem Hals kitzelt. »Die meisten Leute sagen, das Schlimmste wäre, jemanden zu verlieren, den sie lieben. Bist du auch dieser Ansicht?«
Karen antwortet nicht. Als Kind hat sie immer den Kopf unter die Bettdecke gesteckt und die Augen fest zugekniffen, wenn sie Angst vorm Dunkeln hatte, als könne das, was sie nicht sah, ihr auch nichts anhaben. Jetzt tut sie dasselbe. Hält die Augen geschlossen.
»Bist du auch dieser Ansicht?« Die Stimme ist härter geworden, ein bisschen ungeduldig.
»Ja«, bringt Karen hervor, obwohl sie in Wirklichkeit denkt, dass es das Schlimmste wäre, wenn der scharfe Gegenstand an ihrer Kehle noch fester zudrücken würde.
»Weißt du, es ist einfach höflich, jemand anderen anzusehen, wenn er mit dir redet«, sagt die Stimme. »Ich würde mich viel besser fühlen, wenn ich wüsste, dass ich deine ungeteilte Aufmerksamkeit habe.«
Karen zwingt die Lider auseinander. Sie sieht das Gesicht über dem ihren, das glänzende schwarze Haar und die blasse Haut, und hätte die Augen fast wieder geschlossen. Stattdessen heftet sie den Blick fest auf einen Wasserfleck an der Decke. Um den muss sie sich später kümmern. Wenn sie sich auf den Wasserfleck konzentriert, darauf, was sie unternehmen muss, damit die Stelle in Ordnung gebracht wird, dann kann ihr nichts passieren. Einer Frau, die Renovierungsarbeiten plant, kann nichts Schlimmes passieren.
»Was liebst du am allermeisten, Karen?«, wird sie gefragt. Vielleicht kommt das Wasser ja durch den Dachboden herein. Wahrscheinlich eine lose Dachschindel. Sie wird dafür sorgen müssen, dass jemand dort hinaufsteigt.
»Ich habe dich etwas gefragt, Karen.«
»Meinen Sohn«, sagt Karen und spürt, wie sich ihre Kehle beim Sprechen dem Messer ein wenig entgegenhebt. Vielleicht muss die Decke neu verputzt werden. Das wird teuer.
»Ach ja, Thomas. Und liebt er dich auch? Wäre es das Schlimmste, was ihm
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