Dunkle Gebete
konnte. Ich sah auf die Uhr. Noch fünfzig Minuten, bis ich losmusste. Bleib wach, behalt die Nerven.
Und dann, als ich die Tür des Wintergartens hinter mir schloss, ertönte plötzlich Musik. Sie kam von irgendwo ganz in der Nähe, vielleicht sogar aus dem Garten selbst. Ich stand da, lauschte den reinen Tönen der Geigen und wartete auf den Moment, wenn Julie Andrews die erste Zeile singen würde.
Sie tat es nicht. Ich hörte das Klicken einer Taste, dann verstummte die Musik. An ihre Stelle trat die schwere Stille, die entsteht, wenn jemand angespannt lauscht. Und dann, laut genug, dass nur ich allein es hören konnte, sagte dieser Jemand meinen Namen.
57
War’s das jetzt also? Würde alles hier und jetzt enden? Es war so viele Jahre her, dass ich diese Stimme gehört hatte. Sie hatte sich nicht verändert.
Auf der anderen Seite der Mauer neben der Gasse schabte etwas an den Steinen. Das Geräusch war so leise, dass es beinahe von einer Katze hätte stammen können, sogar von einer Ratte oder Maus. Ich wusste, dass es weder das eine noch das andere war. Ich öffnete den Mund, versuchte, den Namen auf meiner Zunge zu formen, doch es kam kein Laut heraus.
Von der Hauptstraße her ertönte eine Polizeisirene. Auf der anderen Seite der Mauer waren Schritte zu hören, die sich entfernten.
»Nein, warte. Das war ich nicht. Ich habe niemanden gerufen.«
Ich hatte keine Ahnung, ob mich jemand gehört hatte. Die Schritte waren fort. Ich brauchte ein paar Sekunden, um die schweren Riegel an der Pforte zurückzuziehen und auf die Gasse hinauszutreten. Sie war leer. Mein Instinkt befahl mir, nicht in Richtung Hauptstraße zu laufen, also wandte ich mich in die andere Richtung. Nach dreißig Metern würde ich an einem Pfad herauskommen, der rings um den Park herum verlief. Noch immer war niemand zu sehen.
Bei der Ausbildung hatte man uns beigebracht, dass der Instinkt die Menschen eher nach links als nach rechts abbiegen lässt. Das war auch die Richtung, die ich einschlug. Das Tor zum Park stand offen, und ich hielt an, um wieder zu Atem zu kommen. Ich konnte die Musik wieder hören. Die klimpernde Melodie, so leicht wie Luftblasen, trillerte irgendwo im Park vor sich hin.
Vorsichtig. Die Büsche rings um die Freifläche waren hoch und dicht. Jede Menge Verstecke. Auf der anderen Seite des Parks befand sich ein Sportgelände, mehrere Fußballplätze, auf denen im Sommer Cricket gespielt wurde. Jeder Schritt führte mich jetzt weiter von anderen Menschen fort. Ich hatte kein Funkgerät mitgenommen, kein Handy, keine wie auch immer geartete Waffe; ich hatte gehandelt, ohne nachzudenken, als ich hier in den Park hinausgestürzt war. Bestimmt hatte man gesehen, wie ich den Garten verlassen hatte, doch es würde einige Zeit dauern, bis Verstärkung eintraf. In der Zwischenzeit würde mein Polizistenstatus kein Schutz sein. Ich war nur eine Frau, die nachts allein unterwegs war.
Der Park war lang und schmal. Büsche und Zierbäume verhinderten, dass ich seine gesamte Länge einsehen konnte, doch ich kannte ihn gut. Zu meiner Rechten war der Kinderspielplatz. Dort gab es Schaukeln, ein Karussell, ein großes Baumhaus mit Rutschen und Klettersteinen. Noch mehr Verstecke. Die Ostseite des Parks war für ältere Kinder und Teenager gedacht, mit einer Skateboardrampe und einer BMX -Bahn.
Vor mir befand sich ein kreisrunder, überdachter Pavillon mit Stühlen. In der dunkelsten Ecke glaubte ich, eine Bewegung in den Schatten ausmachen zu können.
Nach dem Regen vorhin war die Nacht jetzt trübe, feucht und mild; ich konnte weder Sterne noch Mond sehen. Nur eine dichte Wolkendecke. Viel Wind wehte auch nicht, und doch zitterten um mich herum sämtliche Blätter, die dem Herbst noch nicht anheimgefallen waren. Ich zitterte ebenfalls. So sehr, dass es wehtat.
Dann verstummte alles. Sogar der ferne Verkehrslärm schien sich zurückzuziehen, und ich hatte das Gefühl, dass ein entscheidender Moment nahte. Ich merkte, dass ich aufgehört hatte zu atmen, und fragte mich allmählich, wie lange es eigentlich her war, dass ich das letzte Mal hinter mich geschaut hatte.
Ich rührte mich nicht.
»Ich warte«, sagte ich und konnte fast spüren, wie sich die Hand ausstreckte, um meine Schulter zu berühren.
Und dann zerbrach die Stille, als hätte jemand einen Zauberstab geschwungen und die Stadt wieder zum Leben erweckt. Ich konnte die Autos auf der Wandsworth Road hören, das wie Chipstüten raschelnde Laub, eine zuschlagende
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