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Dunkle Gebete

Dunkle Gebete

Titel: Dunkle Gebete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sharon Bolton
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passieren kann, wenn er dich verlieren würde?«
    Wahrscheinlich nicht, lautet die ehrliche Antwort. Karen sieht Thomas nur noch selten; sie bezweifelt, dass er oft an seine Mutter denkt. Die Messerspitze wird fester aufgedrückt, und sie spürt, wie die Haut darum herum einreißt.
    »Ich glaube schon«, sagt sie, als Haar ihr Gesicht streift. Ihr Kidnapper beugt sich tiefer herab, schickt sich an, ihr abermals etwas ins Ohr zu flüstern.
    »Ich habe jemanden verloren, den ich geliebt habe«, sagt die Stimme. »Wusstest du das?«
    »Woher denn?«, wimmert Karen. »Ich habe doch keine Ahnung, wer Sie sind.«
    Karen hört, wie ein tiefer Atemzug eingesogen wird und ganz langsam wieder hervorhaucht. »Ich habe in meinem ganzen Leben nur einen einzigen Menschen geliebt, und ich habe ihn verloren«, sagt die Stimme. »Gehst du gern in den Zoo, Karen?«
    Das ist Wahnsinn. Sie ist jemandem ausgeliefert, der vollkommen wahnsinnig ist.
    »Ich mag den Zoo gern«, sagt die Stimme, während leise Musik einsetzt, eine so unpassende Melodie, dass Karen einen Moment lang denkt, sie müsse von draußen kommen. »Bald gehe ich wieder hin«, fährt die Stimme fort. »Und ich glaube, ich nehme vielleicht jemanden mit – oder soll ich sagen: etwas.«
    Karen Curtis hätte niemals gedacht, dass sie einmal zum Gesang von Julie Andrews sterben würde.

56
    Aus dem Dampfbad wurde nichts. Wir schafften die drei illegalen Flüchtlinge aufs Revier von Wapping, wo sie im Laufe der nächsten paar Tage einen Crashkurs in Sachen englisches Rechtssystem bekommen würden. Ich duschte, zog wieder einmal einen orangeroten Overall an, trank etliche Becher brühheißen Tee und machte eine Aussage. Außerdem bekam ich eine gründliche Standpauke von Onkel Fred zum Thema törichtes, unverantwortliches Betragen, das das Leben seiner Officers in Gefahr brachte und auf jedem Boot, wo er das Sagen hatte, absolut inakzeptabel war. Ich sagte, er hätte vollkommen recht, ich hätte nicht nachgedacht, und es täte mir schrecklich leid. Als er schließlich fertig war, hatte ich beschlossen, dass ich Onkel Fred richtig gern hatte.
    Während all dies geschah, holte Joesbury seinen Wagen aus Southwark, und als die Wasserpolizei mit mir fertig war, wartete er schon darauf, mich nach Hause zu fahren. Noch immer hatte er kein Wort mit mir geredet, und ich hatte keine Ahnung, was ihm durch den Kopf ging. Schweigend fuhren wir dahin, und als wir ankamen, war es nach Mitternacht.
    »Kann ich Dana sagen, dass sie morgen mit Ihnen rechnen soll?«, fragte er, als er vor meiner Wohnung hielt. Er hatte den Motor nicht ausgemacht.
    »Natürlich«, antwortete ich und sah ihm direkt in die Augen. Ich hatte meinen Rucksack in der Hand, und mir ging auf, dass Joesbury ein paar Stunden damit allein gewesen war, während ich in Wapping auf dem Revier gehockt hatte. Vielleicht wusste er ja ganz genau, was da drin war. Als ich mich von ihm abwandte, fiel mein Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Der erste Frühzug nach Portsmouth ging in etwas mehr als drei Stunden.
    Ich sagte Gute Nacht und hörte ihn wegfahren, als ich die Treppe hinunterstieg. In der Wohnung drehte ich die Elektroheizung voll auf und dachte daran, mir ein Bad einzulassen. Ich entschied mich dagegen. Mein Körper war vollkommen warm; die Kälte saß in meinem Kopf. Außerdem würde ein Bad mich träge machen, sogar schläfrig, und ich musste wach bleiben.
    Meinen Fluchtweg hatte ich bereits geplant. Ich wusste, wenn ich zur Haustür hinausging, würde jemand draußen auf der Straße sein und mich beobachten. Doch vom Wintergarten aus konnte ich an der Rückseite des Hauses entlangschlüpfen, um die Ecke biegen und dicht am Rand der Gasse weiterschleichen. Joesburys Kameras würden mich nicht erfassen. Ich konnte über die Mauer klettern, den Park durchqueren und auf die Hauptstraße stoßen. Die U-Bahnen fuhren schon lange nicht mehr, aber Waterloo Station war nicht allzu weit entfernt. Ich konnte zu Fuß gehen. Der Trick bestand im richtigen Timing. Wenn ich mich zu früh auf den Weg machte, war das Risiko größer, dass eine Überwachungskamera mich aufnahm. Wenn ich zu lange wartete, würde ich es nicht schaffen, rechtzeitig an Bord der Fähre zu gehen.
    Ich zog wärmere Sachen an, suchte zusammen, was ich an Essbarem auftreiben konnte, und ging in den Garten hinaus. Die Nachtluft würde mich wachhalten. Jeder, der mich beobachtete, würde annehmen, dass ich nach den Ereignissen dieses Abends nicht einschlafen

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