Dunkle Gebete
vor ein paar Tagen angefangen«, antwortete Madeleine. »Am Schluss hat Mum mir gesagt, wenn die noch mal anruft, soll ich sagen, sie ist nicht da.«
»Hat Ihre Mutter jemals einen Namen erwähnt?«
Madeleine nickte. »Ich hab ihn mir aufgeschrieben. In meiner Tasche im Flur.«
Mizon, ich und die beiden Jungen warteten, während Madeleine ihre Tasche holte. Sie reichte mir ein kleines Notizbuch, und Mizon und ich blickten auf den Namen hinunter, vor dem Charlotte Benn ihre Tochter gewarnt hatte.
Emma Boston.
Während Mizon uns zum Revier zurückfuhr, gab ich per Telefon die Nachricht weiter, dass Emma Boston Kontakt mit Charlotte Benn gehabt hatte. Man sagte mir, es würde jemand losgeschickt werden, um sie zu suchen. Als wir ankamen, erfuhren wir, dass Tulloch, Anderson und etliche andere aus dem Team noch immer bei dem Treffen in der St. Joseph’s School waren und dass darüber bereits in etlichen Nachrichtensendungen des Fernsehens und der Londoner Radiosender berichtet worden war. Emma, erfuhren wir, war noch nicht ausfindig gemacht worden, und die Leute in dem Haus, in dem sie wohnte, glaubten, sie sei vielleicht für ein paar Tage weggefahren.
Die Kinder der Familie Jones, die Söhne der blonden Frau, die an jenem Abend, an dem alles angefangen hatte, in meinen Armen gestorben war, erwarteten uns.
Jacob, sechsundzwanzig, hatte frühzeitig ergrautes Haar und auffallend blaue Augen. Er war groß, mit langen Armen und Beinen, sah gut aus und war sich dessen bewusst. Er war Assistenzarzt in Sheffield. Sein neunzehnjähriger Bruder Joshua war größer als sein Bruder, aber sehr zierlich. Wir unterhielten uns zwanzig Minuten lang mit den jungen Männern und bekamen die alte Geschichte zu hören. Ihre Mutter hatte keine Feinde gehabt. Sie hatten keine Ahnung, warum sie an jenem Abend in dieser Wohnsiedlung gewesen war. Sie konnten sich nicht denken, warum jemand ihr etwas würde antun wollen. Ihres Wissens hatte sie seit Jahren keinen Kontakt mit Charlotte Benn gehabt. An Amanda Weston, damals Briggs, erinnerten sie sich kaum noch.
Die Weston/Briggs-Kinder waren zornig und hatten Angst, genau wie die beiden Jones-Jungen. Genau wie die Jones-Jungen konnten sie uns nichts sagen. Als Mizon und ich mit ihnen fertig waren, waren Tulloch und die anderen zurück. Das öffentliche Treffen war eine Tortur gewesen, in jeder Hinsicht. Fast siebzig verwirrte, verängstigte Familien hatten Antworten haben wollen, die wir nicht hatten. Vor allem den Müttern war eingeschärft worden, sich in den kommenden Wochen besonders vorzusehen, alles Verdächtige zu melden, immer jemanden wissen zu lassen, wo sie waren, und auch andere zu warnen, die irgendetwas mit der Schule zu tun hatten.
Die Autopsie von Charlotte Benns Leichnam hatte inzwischen stattgefunden, und uns war ein erster Befund zugemailt worden. Der Tod war durch massiven Blutverlust eingetreten, als beide Halsschlagadern durchtrennt worden waren. Wahrscheinlich war sie irgendwann zwischen acht und zehn Uhr morgens gestorben, am Montag, dem 1. Oktober. Ein bisschen spät, um den exakten Jahrestag des Ripper-Mordes zu begehen, aber unser Mörder hatte wohl warten müssen, bis sie allein zu Hause gewesen war.
Nach der Arbeit fuhr ich nach Hause, doch anstatt mich in meiner Wohnung zu verkriechen, schlenderte ich zum Flussufer, kaufte mir einen Burger und ließ mich auf einer Bank nieder, um ihn zu essen – und um den Fluss zu betrachten, der mir keine Angst mehr einjagen konnte, das wusste ich. Ich saß dort und wartete darauf, dass die Schatten sich heranschlichen, darauf, dass die Stimme mir ins Ohr flüsterte. Als ich dringend einen Szenenwechsel brauchte, überquerte ich die Vauxhall Bridge und strebte auf Westminster zu. Dabei hielt ich mich an breite, gut beleuchtete Straßen und offene Plätze, wo ich nicht allzu sehr in Gefahr war, überrumpelt zu werden. Direkt vor dem House of Parliament drehte ich mich rasch um und sah eine dunkle Gestalt in einer Seitenstraße verschwinden. Ich wurde beobachtet. Unmöglich zu sagen, von wem.
Nichts geschah. Niemand kam auch nur in meine Nähe. Um zehn Uhr war ich erschöpft und fror. Ich ging nach Hause und ins Bett. Ein paar Stunden lang schlief ich sogar.
Als ich am nächsten Morgen zur Arbeit kam, rauchte Mizon gerade vor der Tür eine Zigarette zu Ende. Sie drückte sie aus, als ich näher kam.
»Die anderen sind alle oben«, meldete sie. »Vor fünf Minuten ist hier eine Frau aufgekreuzt und wollte den DI
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