Dunkle Gebete
scharfer Zischlaut. Dann das Geräusch, das ein Stuhl macht, wenn man damit heftig über den Boden schrammt. »Lacey, dabei werden Sie draufgehen.«
»Das ist das kleinste meiner Probleme«, gab ich zurück. »Eins noch.«
»Ich höre.«
»Wenn Sie in meine Wohnung kommen, werden Sie etwas finden, was heute früh angekommen ist. Ein rechteckiges Päckchen, mit einem Messer darin. Am Rand der Klinge ist der Name Mary eingeritzt.«
»Himmel, Arsch und –«
»Klappe. Das Messer ist vollkommen sauber. Es ist nicht benutzt worden. Joanna lebt noch.«
Ich ließ ihm einen Moment Zeit, darüber nachzudenken. Aber nur einen Moment; ich musste das Gespräch wirklich beenden. Schon jetzt blickte ich nervös die Straße hinauf und hinunter.
»Scheiße, das ergibt doch keinen Sinn«, knurrte er. »Wieso schickt sie Ihnen eine Waffe, die noch nicht benutzt worden ist?«
Fast hätte ich gelächelt. »Sie haben Glück, dass Sie so süß sind, Joesbury«, erwiderte ich. »In der Birne haben Sie nämlich überhaupt nichts. Das Messer ist blitzsauber, weil ich diejenige bin, die es benutzen muss. Ich muss Joanna umbringen.«
87
»Diese Frauen, die Sie umgebracht haben, die Mütter von den Jungen«, sagt Joanna. »Und meine auch. Geben Sie denen die Schuld daran, was passiert ist? Glauben Sie, es ist ihre Schuld, dass ihre Söhne Ihnen das angetan haben?«
Die junge Frau hat einige Zeit mit ihr verbracht, als spüre auch sie die Einsamkeit dieses Ortes. Manchmal reden sie, manchmal sitzen sie auch einfach nur schweigend da und lauschen beide dem Atem der anderen.
»Sie haben sie dazu erzogen zu glauben, dass sie alles kriegen können, was sie wollen«, antwortet die junge Frau. »Alles, worauf sie scharf waren, und scheiß auf die Konsequenzen.«
»Haben Sie es deshalb getan?«, will Joanna wissen.
»Am nächsten Tag, als sie sich auf dem Polizeirevier mit uns getroffen haben«, erwidert die andere, »da war ihren Dads das Ganze so peinlich, dass sie uns nicht ansehen konnten. Sie haben sich für ihre Söhne geschämt. Sie wollten nicht, dass sie angeklagt werden, das sage ich ja gar nicht, aber sie haben auch nicht so getan, als wäre das Ganze unsere Schuld, als hätten wir es drauf angelegt.«
»Und die Mütter haben das getan?«, fragt Joanna.
Sie hört das Zischen eines scharfen Atemholens. »Diese Weiber waren nicht bereit, auch nur eine Sekunde lang zu glauben, dass ihre süßen Kleinen irgendetwas Schlimmes tun könnten«, sagt die Stimme. »Also mussten wir die Bösen sein, meine Schwester und ich.«
Joanna überlegt einen Augenblick. Es gibt da etwas, das sie sagen möchte. Es kommt ihr vor wie ein fürchterlicher Verrat, aber es geht um ihr Leben. »Das verstehe ich«, sagt sie. »Aber die, die Ihnen wirklich etwas getan haben, Ihnen und Ihrer Schwester, die kommen damit davon.«
Sie hört ein leises Lachen, dann beugt sich die junge Frau näher zu ihr heran. »Nein, Joanna«, rieselt die Stimme in ihr Ohr. »Wenn man sie schnell töten würde – und das müsste ich tun –, dann wären sie damit davongekommen. Sie würden es nicht einmal kommen sehen. So werden sie für den Rest ihres Lebens leiden. Genau wie ich.«
88
Ich hatte Joesbury die Wahrheit gesagt, als ich ihm erzählt hatte, ich sei ganz in der Nähe der Waterloo Station. Das mit der U-Bahn war gelogen gewesen. Das U-Bahnnetz von London ist mit Überwachungskameras gespickt, und mich zu finden wäre nur allzu leicht. Stattdessen sprang ich wieder auf mein Fahrrad und fuhr in Richtung Osten. Ich folgte dem Verlauf der A202, mied jedoch die großen Hauptstraßen, behielt die Kapuze auf und strampelte mit gesenktem Kopf stetig dahin.
Eine Stunde und zehn Minuten später sah ich den Südosten von London müßig durch einen Sonntag dümpeln. Am Eingang des Greenwich Park hatte ich mir Kaffee und Sandwiches gekauft. Jetzt aß und trank ich und sah zu, wie die bleiche Sonne versuchte, Spiegelungen auf dem Fluss zu erzeugen; dabei behielt ich jeden im Auge, der zu nahe herankam. Der Himmel zog sich immer mehr zu, und im Park war nicht besonders viel los. Ein paar Leute, die Hunde ausführten oder Drachen steigen ließen, und ein paar Familien drüben am Spielplatz. Es war immer noch kühl am Morgen.
Es musste an der unmittelbaren Nähe des Nullmeridians von Greenwich liegen, dem Zentrum der Zeit, dass ich so sehr das Gefühl hatte, nicht mehr viel Zeit zu haben.
Das Team, aus dem ich ausgestiegen war, hatte bestimmt zwei Prioritäten. Sie würden
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