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Dunkle Gebete

Dunkle Gebete

Titel: Dunkle Gebete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sharon Bolton
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fühlte sich an, als käme sie geradewegs aus der Arktis. Ich zog die Knie unter das riesengroße Sweatshirt und sah, wie er zum Balkongeländer ging und sich darüberbeugte. Als die Ripper-Fotos anfingen, im Zimmer herumzuflattern, stand ich ebenfalls auf und trat an die offene Balkontür. Er blickte über die Bucht, direkt aufs Meer hinaus.
    »Das war’s«, sagte ich zu seinem Hinterkopf. »Das ist alles. Und ich bin todmüde. Können wir morgen weitermachen?«
    Er nickte, ohne sich umzudrehen. Ich wartete noch einen Moment, dann ging ich wieder ins Zimmer. Als ich am Bett vorbeikam, fiel mein Blick auf das Foto von der zerstückelten Mary Kelly. Der eine Ripper-Mord, der noch nicht nachgeahmt worden war.
    Bis zum Fahrstuhl waren es ungefähr fünfzehn Meter den Flur hinunter. Ich hatte gerade die Hand gehoben, um auf den Knopf zu drücken, als das letzte Puzzleteilchen an seinen Platz glitt.
    Grundgütiger!

83
    Ich stand wieder vor Joesburys Tür und klopfte laut. Es war mir egal, wen ich sonst noch aufweckte. »Lassen Sie mich rein!«, zischte ich, sobald ich hörte, wie er das Türschloss entriegelte. Heftig stieß ich die Tür auf, so dass er ins Zimmer zurücktreten musste.
    »Was zum –«, brachte er gerade noch heraus.
    »Wir müssen zurück nach London«, stieß ich hervor. »Jetzt gleich. Rufen Sie Dana an. Wir waren absolute Vollidioten.«
    »Lacey, beruhigen Sie sich. Was zum Teufel ist denn in Sie gefahren?«
    Ich drängte mich an ihm vorbei zum Bett. Das Foto von der grauenhaft zugerichteten Mary Kelly lag auf dem Kopfkissen. Ich streckte die Hand aus und hob es auf.
    »Ich hätte es erkennen müssen«, sagte ich. »Ich wusste, dass sie eine Möglichkeit finden würde, an Nummer fünf ranzukommen, irgendeine. Sie hat sie schon in ihrer Gewalt, da wette ich mit Ihnen, um was Sie wollen, wir müssen –«
    Zwei warme Hände lagen auf meinen bloßen Schultern.
    »Okay, tief durchatmen. Seien Sie still.«
    »Sir, wir haben keine –«
    »Halten Sie die Klappe. Sofort.« Eine Hand hielt mir den Mund zu. Er hatte recht. Ich musste mich zusammenreißen. Aber, großer Gott, warum, warum hatte ich es nicht gesehen?
    Vorsichtig nahm er die Finger von meinem Mund; er erinnerte mich an jemanden, der ein wildes Tier aus dem Käfig lässt.
    »Schön langsam«, wies er mich an.
    »Sie hat gewusst, dass wir es kapieren, nachdem sie Charlotte und Karen umgebracht hat«, erklärte ich. »Opfer Nummer drei und vier. Sie hat gewusst, dass wir Nummer fünf unter Bewachung stellen würden.«
    »Und das haben wir ja auch getan.« Joesbury sprach langsam und bedächtig. »Vor drei Stunden war mit Jacqui Groves noch alles in bester Ordnung. Wollen Sie etwa behaupten, sie –«
    »Jacqui Groves war gar nicht das Opfer. Llewellyn hatte nie die Absicht, sie sich vorzunehmen.«
    Joesbury schüttelte den Kopf. »Sie ist die letzte der Mütter.«
    »Die ersten vier Opfer des Rippers waren Frauen Mitte bis Ende vierzig«, erwiderte ich. »Genau wie die Mütter. Dann hat er das geändert. Er hat sich jüngere Frauen ausgesucht. Er hat einen Zahn zugelegt.«
    »Ich verstehe immer noch nicht –«
    »Aus wie vielen Personen besteht die Familie Groves?«
    Joesbury zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht genau, Mutter, Vater, der Sohn – wie heißt er noch gleich, Toby – und die … o Scheiße!«
    Er hatte begriffen. Endlich. Hastig trat er von mir weg, sah sich suchend nach seinem Handy um.
    »Toby Groves hat eine Schwester«, erläuterte ich, nur für den Fall, dass noch Zweifel bestanden. Joesburys Gesicht nach zu urteilen, war dem allerdings wohl nicht so. »Eine Zwillingsschwester«, fuhr ich fort, während er nach seinem Handy griff und sich anschickte, Dana Tullochs Nummer zu wählen. »Sie ist sechsundzwanzig. Und ich glaube, Llewellyn hat sie sich schon geschnappt.«

84
    Sonntag, 7. September
    Die Dunkelheit ist nicht reglos, das hat Joanna Groves gelernt. Sie bewegt sich. Sie schimmert, ballt sich zusammen, wallt näher heran und formt seltsame, dahintreibende Silhouetten. Manchmal wird Dunkelheit so schwer, dass sie auf ihre Kopfhaut drückt, gegen die Rückseite ihrer Augen, ihrer Kehle. Joanna hat nie wirklich über Dunkelheit nachgedacht, bevor sie hierhergebracht worden ist. Jetzt fällt es ihr schwer, an irgendetwas anderes zu denken.
    Außer vielleicht an die Kälte. Es ist schwer, nicht an Kälte zu denken, wenn ihr die ganze Zeit so fürchterlich kalt ist, sogar wenn sie schläft. Sie hat kein Zeitgefühl, weiß

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