Dunkle Gebete
Joanna Groves und Victoria Llewellyn finden wollen, von denen man wohl durchaus annehmen konnte, dass sie sich am selben Ort befanden. Ihr zweites Zielobjekt würde ich sein. Mein Foto war bestimmt schon an alle Dienststellen von London geschickt worden. Jeder Kontrollraum für die Überwachungskameras, jeder Polizist und jeder Streifenwagen würden Anweisung bekommen haben, nach mir Ausschau zu halten. Ich durfte damit rechnen, mich in einer Hauptrolle in den Mittagsnachrichten zu sehen. Und dann würde auch jeder andere rechtschaffene Bürger in London nach mir suchen.
Und Llewellyn auch. Sie hatte meine Telefonnummer. Sie würde mir sagen, wo ich hingehen sollte. Ich musste nur lange genug meinen Kollegen aus dem Weg gehen, damit sie Gelegenheit dazu bekam.
Also saß ich da und versuchte, nicht zu sehr auszukühlen, während die Stunde verstrich. Um fünf Minuten vor eins stieg die große rote Zeitkugel halb den Mast auf dem Dach des Royal Greenwich Observatory empor. Drei Minuten später schwebte sie bis ganz zur Spitze, und um Punkt ein Uhr sank sie wieder hinunter. Ich wartete noch eine halbe Stunde länger und zog dann mein Handy hervor. Keine Nachrichten.
Ich schaltete das Handy wieder aus und stieg abermals aufs Fahrrad. Joesbury und das MIT -Team würden inzwischen wissen, dass ich in Greenwich war. Zeit zum Abmarsch.
Auf dem Fahrrad verließ ich den Park und fand einen Stand, wo Billigklamotten verkauft wurden. Ich erstand eine blaue Regenjacke und eine Baseballmütze. Dann rollte ich in Jacke und Mütze zu der verglasten Kuppel am Eingang des Fußgängertunnels von Greenwich. Ich schob das Fahrrad hindurch und hielt dabei den Kopf gesenkt, für den Fall, dass es hier drinnen Kameras gab. Am Nordufer fand ich eine Bank dicht am Fluss; dort saß ich und starrte die kunstvollen Gebäude des alten Greenwich Hospital an, bis eine weitere Stunde vergangen war. Mittlerweile begann es zu regnen. Wieder schaltete ich mein Handy an. Nichts.
Als der Nachmittag halb verstrichen war, war ich völlig durchgefroren. Ich fuhr die Isle of Dogs hinauf und fand ein kleines Internetcafé, das am Sonntag geöffnet war. Den Kopf gesenkt, um den Überwachungskameras zu entgehen, ging ich hinein und suchte mir einen freien Computer. Dann machte ich mich daran, diverse Nachrichten-Websites zu durchforsten.
Joanna Groves’ Entführung wurde auf jeder Internetseite gemeldet, die ich aufrief. Sie war ein schlankes Mädchen mit hellem Haar und blauen Augen, nicht besonders hübsch, aber bei Weitem nicht reizlos. Sie wohnte in einer Erdgeschosswohnung in Wimbledon und arbeitete in der Grundschule des Viertels. Am Freitagnachmittag hatte sie um halb vier die Schule verlassen und war verschwunden. Während ich Seite um Seite anklickte, krampfte sich in meinem Innern allmählich alles zusammen.
Von mir stand dort nichts. Nicht einmal auf der Website der Londoner Polizei. Überhaupt nichts.
Meine Stunde war noch nicht herum, aber ich konnte nicht länger hierbleiben. Tullochs Computerkenntnisse waren legendär, und es war durchaus möglich, dass sie merkte, dass ich auf der Polizei-Website gewesen war, und den Computer ausfindig machen konnte, den ich benutzte. Ich stand auf und verließ eilig das Café. Die Kollegen vom MIT taten genau das Gegenteil von dem, was sie eigentlich tun sollten. Sie mussten nach mir suchen, verdammt noch mal, und zwar mit viel Tamtam. Woher sollte Llewellyn sonst wissen, dass ich mich abgeseilt hatte?
Okay, denk nach, denk nach, denk nach. Ich fuhr eine Viertelstunde durch die Gegend und fand ein zweites Café mit Internetzugang. Als ein Computer frei wurde, tippte ich »Ripper« in die Suchmaschine und drückte auf »Start«.
Wenn man im Netz nach Jack the Ripper sucht, kann man damit rechnen, ein paar Millionen Treffer zu landen. Sucht man nach einem Nachahmungstäter im 21. Jahrhundert, sind es nicht ganz so viele. Nur knapp dreiundvierzigtausend. Trotzdem recht beeindruckend für jemanden, der erst seit ein paar Wochen zugange ist. Ich begann, mich durch die Websites zu wühlen, und suchte nach Blogs. In jedem hinterließ ich eine Nachricht.
Cardiff-Girl: Ruf an. L.
Das war riskant. Beamte des Teams hatten die verschiedenen Websites von Anfang an überwacht. Wenn sie meine Einträge bemerkten, würden sie anfangen, ihnen nachzuspüren. Ich ging und fand eine kleine, halb leere Starbucks-Filiale. Nach vierzig Minuten schaltete ich mein Handy an. Nichts, und allmählich wurde ich paranoid. Eine
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