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Dunkle Gebete

Dunkle Gebete

Titel: Dunkle Gebete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sharon Bolton
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ging – und um Camden … wurde Mark Joesbury stinkig.
    Ich hatte gewollt, dass er zuhörte und Mitgefühl empfand, nicht, dass er sauer wurde. Also hatte ich verschwiegen, dass der Ort, wo ich der anderen jungen Ausreißerin begegnet war und mit ihr zusammengewohnt hatte, gerade mal einen knappen Kilometer von dort entfernt war, wo ich jetzt regelmäßig – um seine Worte zu gebrauchen – bumsen ging.
    Aber es war vollkommen logisch, dass Llewellyn sich Camden aussuchen würde. Ich hatte monatelang dort gewohnt, kannte mich gut aus, und obwohl vieles im Lauf der letzten Jahre bis zur Unkenntlichkeit verändert worden war, so basierte doch der ganze Umbau auf jenem fünften unter meinen Favoriten. Ponys. Llewellyn hielt Joanna irgendwo in der Nähe des Camden Stables Market fest. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in den Katakomben.

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    »Sie können mich sehen, nicht wahr?«, fragt Joanna. »Ich weiß nicht, wie Sie das machen, aber Sie können im Dunkeln sehen.« Diesen Verdacht hat sie jetzt schon seit einer ganzen Weile. Die junge Frau bewegt sich ruhig und lautlos durch den dunklen Raum, ohne jemals zu stolpern. Joanna hat sie nie eine Taschenlampe benutzen sehen.
    »Ja, ich kann dich sehen«, antwortet die andere. »Ich habe ein Nachtsichtgerät. Davon bekomme ich zwar nach einiger Zeit Kopfweh, aber hier unten ist es ganz nützlich.«
    »Bitte«, fleht Joanna, »können wir ein bisschen Licht machen? Nur eine Taschenlampe. Ich weiß doch schon, wie Sie aussehen, das spielt doch keine Rolle mehr.«
    »Ich fürchte, das geht nicht«, sagt die andere. »Wir warten auf jemanden. Und ich muss es genau wissen, wenn sie kommt.«

90
    Inzwischen war es fast sechs Uhr. In einem Baumarkt erstand ich eine Taschenlampe und eine große Zange, und dann brauchte ich fast zwei Stunden, um auf Nebenstraßen nach Camden zu gelangen. Als ich dort ankam, suchte ich mir eine Stelle, wo ich mein Rad anketten konnte, und joggte dann den Treidelpfad hinunter, der sich am Regent’s Canal entlangzieht.
    Wenn man von den Camden Catacombs spricht, werden nur wenige Menschen in London wissen, wovon man redet, auch diejenigen, die sich in Camden gut auskennen. Aber sie existieren trotzdem: ein tief begrabenes Netzwerk aus unterirdischen Kammern und Tunneln, das vor fast zweihundert Jahren im Zuge des Eisenbahnbaus angelegt wurde. In den letzten Jahren sind viele der Tunnel geöffnet und als Teil des Stables Market erschlossen worden. Aber nicht alle.
    Auf der Schleusenseite der Eisenbahnbrücke ist eine dicke Tür aus schwarzem Metall in die Mauer eingelassen, die den Kanal säumt. Davor machte ich halt. Dies war der richtige Moment, Joesbury anzurufen. Er, Tulloch und das Team hätten eine sehr viel größere Chance, Joanna dort herauszuholen, als ich allein.
    Andererseits würden sie mich verhaften, wenn ich mich irrte. Ich würde mich nicht noch einmal absetzen können, und Llewellyn würde Joanna nicht ewig am Leben lassen. Wenn ich sie umbrachte, wäre das vielleicht das Sahnehäubchen auf der Torte, aber wenn die Menschen hungrig genug sind, essen sie ihre Torte für gewöhnlich auch ohne Sahnehäubchen.
    Das Vorhängeschloss an der Tür sah neu aus. Nach einem kurzen Rundumblick zog ich die Zange hervor. Genau wie Joesbury es vor ein paar Wochen im Victoria Park getan hatte, schob ich die Zangenbacken unter den Bügel des Schlosses und zwang sie mit einem Ruck auseinander. Das Vorhängeschloss fiel zu Boden. Wenn ich die Tür öffnete, würde ich mich in einem alten Tunnel befinden, der zu einem riesigen unterirdischen Komplex führte, den Stationary Winding Engine Vaults.
    Früher hatte der Lärm, den die Züge auf der steilen Hügelstrecke von Euston nach Camden machten, die reichen Anwohner schier in den Wahnsinn getrieben. Das war, bevor Qualm zu einem weiteren Ärgernis geworden war. Um Krach und Qualm zu vermeiden, wurden die Züge also an dieser Stelle von zwei dampfgetriebenen Winden und einem sehr langen, zu einem Kreis geknüpften Tau hinaufgezogen. Die Winden selbst, das Triebrad und weitere große Rollen und Flaschenzüge waren in einem gewaltigen unterirdischen Gewölbe untergebracht, fast siebzig Meter lang und fünfzig Meter breit, das noch immer direkt unter den Eisenbahnschienen liegt. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zeigten zwei hohe Schornsteine an, wo sich das Gewölbe befand. Heutzutage ist von dieser riesigen Höhle praktisch nichts mehr zu sehen; nur sehr wenige Menschen wissen, dass es

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