Dunkle Gebete
Frau war kurz nach mir in das Café gekommen. Eine Dreiviertelstunde später war sie immer noch da. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hatte das nichts zu bedeuten, wahrscheinlich war sie auch nur eine Londonerin, die Zeit totschlagen musste, aber es behagte mir nicht, sie in meiner Nähe zu wissen.
Ich suchte mir ein anderes Café, diesmal eins mit einem Fernseher, und bat um Erlaubnis, auf den Nachrichtensender umzuschalten. Zwanzig Minuten lang sah ich mir die aktuellen Berichte an; Joanna wurde mehrmals erwähnt. Ich nicht. Wieder schaltete ich mein Handy an. Noch immer nichts. Weiter.
Scheiße, so hatte ich das nicht geplant. Panik stieg in mir auf wie Milch, die zu kochen beginnt. Llewellyn wusste nicht, dass ich allein unterwegs war. Sie würde sich nicht bei mir melden.
Und meine Paranoia wuchs außerdem, weil ich überall, wo ich hinkam, das Gefühl hatte, dass die Leute mich ansahen. Das war unmöglich; ich hatte mein Handy ausgeschaltet gelassen, ich war immer in Bewegung geblieben, ich hatte die Kameras gemieden. Die Aufmerksamkeit, die mir zuteilwurde, musste meinem noch immer ziemlich zerbeulten Gesicht gelten. Doch mit jeder Minute, die verstrich, wurde das Gefühl, beobachtet zu werden, stärker.
Ich könnte einfach abhauen.
Doch wenn ich das tat, würde Joanna Groves sterben. Es musste eine andere Möglichkeit geben. Ich kannte diese Frau, ich wusste, wie sie dachte. Wo würde sie Joanna hinbringen?
Geraldine Jones hatte sie in einer Wohnsiedlung im Süden von London umgebracht. Amanda Weston hatte sie in einem Park zerstückelt, Charlotte Benn war in ihrem eigenen Haus ermordet worden, Karen Curtis im Haus ihrer Mutter. Es gab kein Muster.
Ich verließ das Café, schloss mein Fahrrad los und schob es einfach so die Straße entlang; dabei vergaß ich sogar, nach Kameras Ausschau zu halten. Zum ersten Mal an diesem Tag hatte ich keinen Plan, keine Ahnung, wohin ich mich als Nächstes wenden sollte.
Llewellyn hatte mir ein Messer geschickt. Sie wollte, dass ich Joanna Groves umbrachte. Das hieß, sie musste glauben, dass ich sie finden würde. Ich kam an einem Zeitungsladen vorbei, an einem Geschäft für Kinderkleidung, einem Secondhand-Plattenladen. Unwillkürlich war ich stehen geblieben, starrte mein Spiegelbild im Schaufenster des Plattengeschäfts an. Die Leute auf dem Gehsteig mussten sich um mich herumschlängeln, doch ich konnte mich nicht rühren, konnte den Blick nicht von dem Stapel alter Musical-Schallplatten abwenden. The Sound of Music war nicht dabei, aber das war auch nicht nötig. Ich hatte begriffen.
Natürlich gab es ein Muster bei dem Ganzen, es hatte immer eins gegeben. Es ging um mich und um die Dinge, die ich am liebsten mochte. Denn dieses Spiel hatte ich ein paar Mal mit jemand anderem gespielt. Wir hatten lange Listen, jenes andere Mädchen und ich, aber eines Tages hatten wir unsere Auswahl auf fünf Dinge für jeden begrenzt. Auf meiner Liste standen der Zoo, Parks, Schwimmbecken, öffentliche Bibliotheken und Ponys.
Geraldine Jones war an einem Ort getötet worden, wo ich sie auf jeden Fall hatte finden müssen, um sicherzugehen, dass ich von Anfang an beteiligt sein würde. Amanda Weston war in einem Park ermordet worden, in dem ich öfter gewesen war, und ein Teil ihrer Leiche war in einem meiner Lieblingsschwimmbäder zurückgelassen worden. Charlotte Benns Herz hatte man in der Kinderbuchabteilung einer viktorianischen Leihbibliothek gefunden, auf einem meiner Lieblingsbücher. Man hattte uns auf eine fruchtlose Expedition in den Zoo von London geschickt, um Karen Curtis’ Kopf zu finden. Parks, Bibliotheken, Schwimmbäder und der Zoo. Vier von fünf Punkten waren abgehakt. Einer fehlte noch.
Ponys.
Endlich wusste ich, wo sie waren. Die arme, völlig verängstigte Joanna Groves und die Llewellyn, die sie als Geisel genommen hatte, die darauf wartete, dass ich kam und ihrem letzten Opfer ein Messer durch die Kehle zog.
Als ich Joesbury von den beiden jungen Frauen erzählt hatte, die in einem Londoner Abbruchhaus Körperwärme und Wände aus Pappkarton miteinander geteilt hatten, war ich nicht ins Detail gegangen. Der genaue Standort jener halb vergessenen, eiskalten Bruchbude war mir nicht wichtig erschienen. Und man brauchte natürlich auch kein Genie zu sein, um mitzubekommen, dass Joesburys Augen jedes Mal schmaler und sein Kiefer ein klein wenig verspannter wurden, wenn ich einen ganz bestimmten Londoner Bezirk erwähnte. Wenn es um mich
Weitere Kostenlose Bücher