Dunkle Gebete
Wohnhäuser und sogar ein Teil des Supermarktes waren an seiner Stelle errichtet worden, doch das gemauerte Kellergewölbe war noch da.
Verblüfft über meinen eigenen Wagemut, war ich durch den Keller geschritten, in einen anderen Tunnelabschnitt und dann in einen zweiten Keller hinein, diesmal unter einem weiteren viktorianischen Gebäude, dem Interchange Warehouse. Ich hatte Verkehrsgeräusche und Wasser gehört und war ohne Vorwarnung durch einen gewölbten Durchgang in gedämpftes Tageslicht hinausgetreten. Hier hatte ich mich noch immer in einem Tunnel befunden, aber in einem, der einen kurzen Nebenarm des Regent’s Canal beherbergte.
Jetzt konnte ich das Interchange Warehouse vor mir sehen, ein vierstöckiges Backsteingebäude mit jeder Menge gusseiserner Bogenfenster. Der Nebenarm, den ich gefunden hatte, war von Menschenhand geschaffen und hatte ursprünglich als Privatanleger gedient, damit Lastkähne ihre Fracht im Lagerhaus löschen konnten. Heute wird er immer noch von den schmalen, langen Kanalbooten zum Wenden benutzt. Er hat sogar einen Namen, von der inoffiziellen Treibgut-Sammelfunktion, die er erfüllt. Man nennt ihn Dead Dog’s Hole.
Theoretisch konnte ich mich, wenn ich jetzt denselben Weg zurücknahm, durch die Katakomben schleichen und die Windengewölbe aus einer Richtung betreten, mit der Llewellyn nicht rechnete.
Dafür würde ich allerdings in den Regent’s Canal springen müssen.
Inzwischen hatte ich den Treidelpfad erreicht und stand am Fuß der kleinen Brücke, die Fußgänger über das Dead Dog’s Hole hinwegführt. Ein Boot war am Ufer festgemacht. Ohne nachzudenken kletterte ich zu dem Kahn hinunter und tastete mich auf der schmalen Leiste voran, die sich an seiner Backbordseite entlangzog. Als ich den Bug erreichte, blickte ich mich abermals um, teils um sicherzugehen, dass mich niemand sehen konnte, aber hauptsächlich wohl, um das, was ich tun musste, noch ein bisschen aufzuschieben. Ich war allein, der Regen fiel stetig, und das schwarze Wasser schien unter mir zu schimmern. Ich konnte Dieseltreibstoff und faulende Pflanzen riechen.
Kanäle sind keine Flüsse. Sie haben keinen Gezeitenstrom und keine Strömung. Der Regent’s Canal ist nicht viel tiefer als einen Meter. Theoretisch konnte ich darin stehen, ich würde sogar durchs Wasser waten können. Es würde doch höchstens ein paar Sekunden dauern, gerade lange genug, um unter die Fußgängerbrücke und in den Nebenarm zu gelangen.
Sinnlos, darüber nachzudenken. Ich zog Jacke und Sweatshirt aus und stopfte sie in den Rucksack. Dann ließ ich mich ins Wasser gleiten.
Es gibt keine Worte, um das Gefühl angemessen zu beschreiben, dass man von allen Seiten von einer Kraft bedrängt wird, die stark genug ist, einen zu zermalmen. Oder von einer Kälte, die mir die Lunge gefrieren ließ und sie daran hinderte zu funktionieren. Das Wasser reichte mir bis zum Hals; mit dem einen Meter hatte ich mich grob verschätzt. Ich hielt mit der einen Hand den Rucksack hoch über den Kopf, klammerte mich mit der anderen an die Uferbefestigung und watete los.
Für jeden Schritt schien ich eine Ewigkeit zu brauchen, während ich mich das Kanalbett entlangtastete, das abwechselnd so hart wie Granit und so weich wie Kittmasse war. Gegenstände lagen darin verstreut, manche so groß, dass ich mir einen Weg darum herum suchen musste. Jeder Augenblick, in dem ich das Ufer nicht berührte, war mir verhasst.
Im Tunnelgewölbe wurde das Licht schwächer, doch nach einer oder zwei Sekunden gewöhnten sich meine Augen allmählich an die Düsternis. Noch ein paar Sekunden mehr, und ich konnte direkt vor mir Steinstufen erkennen. Ich stieß dagegen und schaffte es, meinen Rucksack auf den Uferrand zu werfen und mich festzuhalten. Dann zog ich mich aus dem Wasser.
Eine gute Minute lang stand ich nur da und zitterte am ganzen Leib. Dann zog ich mein klatschnasses T-Shirt aus und holte Sweatshirt und Jacke aus dem Rucksack. Das half ein wenig. Auch dass ich die Schuhe auszog und das dreckige Kanalwasser ausleerte. Als ich das Gefühl hatte, der kommenden Aufgabe gewachsen zu sein, ging ich durch den gewölbten Torbogen auf die gegenüberliegende Wand zu. Dann marschierte ich los, durch eine Reihe kleiner Durchgänge, jeder nur etwa einsachtzig hoch und ungefähr dreieinhalb Meter breit.
In den Gewölben stank es nach stehendem Wasser, nach Abwasser und irgendetwas Scharfem, Beißendem, ein beinahe chemischer Geruch. Die Luft war still, und je
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