Dunkle Gebete
aufgestockt, so weit sie können«, erwiderte der Sergeant. »Aber die werden mehr Probleme kriegen als wir. Da hängen schon jetzt lauter Vollidioten an den Schauplätzen der Originalmorde rum.«
»Er wird nicht in Whitechapel zuschlagen«, meinte Stenning. »Doch nicht, wenn er weiß, dass die Hälfte der Anwohner unterwegs ist und nach ihm Ausschau hält.«
»Wir wissen noch nicht mal, ob er überhaupt zuschlagen wird«, seufzte Tulloch.
Hinter mir entstand Bewegung, die Chefs der verschiedenen Dienststellen kamen zur Besprechung. Tulloch dankte ihnen allen dafür, dass sie gekommen waren, und gleich darauf wurde ich nach vorn gerufen. Da es mir immer noch nicht erlaubt war, mich offiziell dem Ermittlungsteam anzuschließen, hatte ich während der letzten Tage nicht viel mehr getan als alles aufzupolieren, was ich früher einmal über die Whitechapel-Morde gewusst hatte. Eine Express-Onlinebestellung hatte mir so ziemlich jedes Buch über die Morde verschafft, das sich gegenwärtig auf dem Markt befand. Inzwischen hätte ich selbst eine Ripper-Tour führen können, und das Team war zusammengezogen worden, um zu hören, was ich über den zweiten kanonischen Ripper-Mord zu berichten hatte.
»Annie Chapman war Mitte vierzig, klein und übergewichtig, und ihr fehlten mehrere Zähne«, fing ich an und erblickte ganz hinten im Raum Mark Joesbury, der auf seine Schuhe hinunterschaute. Sämtliche anderen Blicke im ganzen Raum wanderten von mir zu dem vergrößerten Foto von Annie Chapman im Leichenschauhaus. Es zeigte ein dickliches, reizloses Gesicht, umgeben von dunklem, lockigem Haar.
Ich brauchte meine Unterlagen nicht zurate zu ziehen. Ich erzählte von der letzten Nacht in Annie Chapmans Leben, von dem Mörder, der geräuschlos zuschlug, ohne eine Spur zu hinterlassen. Während ich sprach, schaute Joesbury zweimal kurz auf, begegnete für den Bruchteil einer Sekunde meinem Blick und sah abermals zu Boden. Als ich berichtete, dass sie das letzte Mal um halb sechs Uhr morgens lebend gesehen worden war, sah ich mehrere Anwesende nach der Uhr schielen. Halb sechs, das waren keine zehn Stunden mehr.
»Ist da irgendwas dran, dass der Ripper ein Mitglied der königlichen Familie war?«, rief jemand aus dem hinteren Teil des Raumes. Tulloch und ich wechselten einen Blick. Sie nickte mir zu, dass ich antworten solle.
»Sie sprechen von Prinz Albert Victor«, sagte ich. »Das war ein Enkel von Queen Victoria und ein direkter Anwärter auf den Thron. Es gibt zwei Theorien zu Prinz Albert. Die erste lautet, dass er durch Syphilis wahnsinnig geworden war und blindlings im East End gemordet hat. Das kommt nicht hin; als Mitglied der königlichen Familie war sein jeweiliger Aufenthaltsort stets bekannt. Es ist so gut wie unmöglich, dass er die Morde verübt hat.«
»Und wie lautet die andere Theorie?«, hakte Tulloch nach, und ich hatte allmählich das Gefühl, dass ich einen Zahn zulegen sollte.
»Die zweite dreht sich um eine Freimaurerverschwörung«, sagte ich. »Demnach hat Prinz Albert heimlich eine Ehe mit einer jungen Katholikin geschlossen und hatte eine kleine Tochter. Die Frau wurde ins Irrenhaus gesperrt, aber die Amme des Kindes, Mary Kelly, ist entkommen und hat ein paar Prostituierten erzählt, was sie wusste. Die haben daraufhin einen Plan geschmiedet, die Regierung zu erpressen. Der damalige Premierminister war Freimaurer. Er hat seine Logenbrüder in die Sache eingeweiht, und es heißt, sie hätten die Frauen in die königliche Kutsche gelockt, wo sie nach den Freimaurerritualen ermordet wurden.«
»Ist das möglich?«, wollte einer der Sergeants von der Streife wissen.
»Unwahrscheinlich«, antwortete ich. »Zum einen sind die Frauen da getötet worden, wo man sie gefunden hat. Das Blut am Fundort, und dass sonst in der Umgebung keins zu finden gewesen war, macht das ziemlich deutlich. Außerdem waren das keine kalkulierten Hinrichtungen; das ist im Blutrausch geschehen, ausgeführt von jemandem, der seine Raserei kaum zügeln konnte.«
»Okay, okay.« Tulloch war aufgestanden und schaute auf die Uhr. »Danke, Lacey, aber wir können die ganze Nacht über Ripper-Verdächtige reden, und ich weiß nicht recht, ob uns das was bringt. Auf in den Kampf, okay?«
Rasch leerte sich das Revier. Während die Leute das Gebäude gruppenweise verließen, konnte ich die Spannung förmlich spüren, die in der Luft hing. Darauf zu warten, dass etwas Schlimmes passiert, das war immer so viel schlimmer, als sich
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