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Dunkle Gebete

Dunkle Gebete

Titel: Dunkle Gebete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sharon Bolton
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gehabt zu schreien. Hätte sie es doch getan, so hätte irgendjemand im Haus sie gehört. Niemand hatte etwas gehört.
    Man hatte diese Frau geknebelt. Man hatte ihr ein blutbeflecktes Tuch in den Mund gestopft und mit Klebeband fixiert. Man hatte erwartet, dass diese Frau schrie.
    »Lacey, ist alles okay?«, fragte mich jemand. Ich ließ den Kopf sinken und hob ihn wieder. Ich hatte nicht aufgeschrien, war nicht in Ohnmacht gefallen oder hatte mich übergeben. Das hieß wohl, dass alles okay war. Meine Schultern wurden kühl, und ich sah, wie Joesbury zum Kopf der Frau ging und auf ihr Gesicht hinunterblickte.
    Ihre Augen standen offen und verfärbten sich allmählich milchig. Im Winkel des einen bemerkte ich eine Bewegung und begriff, dass dort bereits Maden ausgekrochen waren. Auch um ihre Nase summten Fliegen und um ihre Ohren; sie halten sich immer zuerst an die Körperöffnungen. Und an die Wunden. Fliegen stehen auf den Geruch und den Geschmack von Blut.
    Annie Chapmans Brust war unversehrt gewesen. Ihre Kleidung hatte sie geschützt, ihr Mörder hatte so wenig Zeit gehabt.
    Der Mörder dieser Frau hatte jede Menge Zeit gehabt. Ihre Brüste wiesen ein Dutzend oder mehr Schnittwunden auf. Flache, schmale Einschnitte, mit einem scharfen Messer durchgeführt. Sie hatte heftig geblutet. Ihr Brustkorb und der Schuppenboden unter ihr waren blutverschmiert. Sie hatte geblutet, also war sie am Leben gewesen. Ihre rechte Brustwarze war in der Mitte durchgeschnitten worden.
    Ich kreuzte die Arme, umklammerte meinen Oberkörper, schützte unwillkürlich meine eigene Brust. Joesbury warf mir einen raschen Blick zu und wandte sich dem unteren Teil des Leichnams zu. Die Verletzungen am Brustkorb waren nicht das Schlimmste.
    Fast am schlimmsten war der Bauch, wo das Fleisch so zerhackt und auseinandergezerrt worden war, dass ich nicht genau wusste, was ich eigentlich vor mir sah. Schwarze Blutlachen schimmerten auf dem Boden, aber nichts schien irgendeine Ähnlichkeit mit dem zu haben, was der Körper einer Frau normalerweise beherbergt. Und die Farben waren so grell. Das geronnene Blut so rot, die Fettklumpen von sanftem Cremegelb, und die Fliegen funkelten blau und schwarz wie Edelsteine. Selbst das war nicht das Schlimmste.
    Damals, 1888, waren Annie Chapmans Beine angewinkelt worden, bis ihre Füße nebeneinander ruhten, dann hatte man ihre Knie auseinandergedrückt, so dass die Genitalien sichtbar waren. Das könnte eine Pose gewesen sein, um jene, die sie fanden, zu schockieren. Es hätte auch eine Vorbereitungsmaßnahme sein können, für das, was der Ripper als Nächstes geplant hatte, bevor er plötzlich keine Zeit mehr gehabt hatte.
    Unser Ripper hatte viel Zeit gehabt.
    Die meisten Frauen haben mit zwanzig mindestens eine Untersuchung des Muttermundes hinter sich. Wir liegen dabei auf einem Tisch oder Stuhl, die Beine angezogen, so dass die Kniekehlen sich ungefähr auf Höhe der Brust befinden. Manchmal ruhen unsere Füße in Halterungen, manchmal werden wir gebeten, die Knie zu spreizen. Diese Frau sah fast aus wie eine Patientin, die auf eine vaginale Untersuchung wartet. Nur würde kein Gynäkologe, dem ich je begegnet bin, Klebeband verwenden, es ober-und unterhalb der Knie um die Beine wickeln, um sie zu beugen und an Ort und Stelle zu halten. Diese Frau wäre unfähig gewesen, sich zu bewegen, sogar unfähig zu schreien, als das sechzig Zentimeter lange Stück Holz in sie hineingerammt worden war.
    Joesbury blickte jetzt auf dieses Holzstück hinunter. Ich auch. Knapp zehn Zentimeter von der Stelle entfernt, wo es aus dem Leichnam hervorkam, waren fünf Buchstaben ins Holz geritzt worden.
    ANNIE .
    »Oh, ich glaube, wir haben’s kapiert, Kumpel«, sagte Joesbury halblaut. Er wischte sich mit der Hand übers Gesicht und schluckte heftig.

38
    Am 8. September 1888 rannte John Davis sofort los, um Hilfe zu holen. Er hielt zwei vorüberkommende Fußgänger an und schickte nach einem Constable. Gut hundert Jahre später lotste Mark Joesbury mich aus dem Schuppen und telefonierte mit seinem Handy mit DI Tulloch. Dann rief er mit dem Funkgerät im Auto eine Streife vom zuständigen Revier herbei.
    Irgendjemand, ich glaube, es könnte sogar unser Freund John gewesen sein, zog Annies Röcke herunter, um wenigstens etwas von ihrer Würde zu bewahren. Joesbury schickte den Parkwächter los, um ein neues Vorhängeschloss aufzutreiben. Als es gebracht wurde, verrammelte er die Schuppentür.
    Schon hatte sich

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