Dunkle Gebete
Joesbury zuckte mit keiner Wimper.
»Bitten warten Sie hier, Sir«, wies er den Parkwächter an, ehe er mich vorwärtswinkte. Ich trat neben ihn und wusste genau, dass ich vielleicht nicht in der Lage sein würde, wieder einen Fuß vor den anderen zu setzen, wenn ich jetzt stehen blieb. Also trat ich als Erste ein.
Vage war mir bewusst, dass Joesbury sich vorbeugte, um das Licht anzumachen, ehe ich zurücktaumelte. Joesbury trat vor und packte mich an den Schultern. Ich konnte seinen Atem an meinem Nacken fühlen.
»Allmächtiger«, stieß er hervor.
37
Als der Leichnam von Annie Chapman am 8. September 1888 gefunden wurde, war die Sonne noch nicht aufgegangen. Die wenigen Straßenlaternen, die es im viktorianischen Viertel Spitalfields gab, hätten den kleinen, schmalen Hof hinter dem Haus Hanbury Street Nr. 29 nicht erhellen können. Die Mauern, die den Hof umgaben, und die umliegenden Gebäude waren wahrscheinlich hoch. Als John Davis, ein betagter Dienstmann, an jenem Morgen auf dem Weg zur Arbeit aus der Tür seiner Unterkunft trat, dürfte die Finsternis fast undurchdringlich gewesen sein.
Joesbury und ich hatten weniger Glück. Dafür sorgten grelle Neonröhren an der Decke des Bootsschuppens.
Ich glaube, John Davis hat an diesem Morgen bestimmt gewusst, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich glaube, die menschliche Rasse hat sich genug von ihren tierischen Instinkten bewahrt, um die Gegenwart von etwas sehr Bösem zu spüren. Später berichtete er, er hätte in der Nacht davor nicht gut geschlafen. Wenn ich ihn mir bildlich vorstelle, kommt er immer langsam aus dem Haus; irgendetwas in seinem Inneren flüstert ihm zu, sich nur ja in Acht zu nehmen.
Ich glaube, er muss gewusst haben, was er finden würde, schon als er auf den Stufen der Hintertür stand. Vielleicht hat er etwas gerochen, allerdings bezweifle ich das. Im ganzen East End stank es nach Schlachthäusern und mangelhafter Kanalisation. Vielleicht hatte er Annies letzten Schrei gehört. Vielleicht sogar die Schritte des Rippers, die die Gasse hinunter davoneilten.
Joesbury und ich hatten gewusst, dass das, was wir finden würden, uns verändern würde, bevor wir diesen Schuppen betreten hatten.
Damals, im Jahr 1888, packte der Ripper Annie am Hals und erwürgte sie halb, ehe er sie zu Boden zwang. Dann kniete er neben ihr nieder und schnitt ihr die Kehle durch, so tief, dass er ihr fast den Kopf abtrennte. Daraufhin beugte er sich vor und schlug ihre Röcke hoch, um ihren Unterleib zu entblößen, den er mit dem Messer bearbeitete. Er schnitt Hautstücke weg, zerrte Organe und Bindegewebe hervor und ließ sie quer über ihrem Leib liegen. Den Uterus entfernte er ganz. Er hatte Annies Beine hochgezogen; ohne Zweifel hatte er vorgehabt, noch mehr anzurichten, war jedoch gestört worden. Möglicherweise dadurch, dass unser Freund John Davis die Hintertür des Hauses geöffnet hatte.
Ich glaube, Annie dürfte die meiste Zeit bei Bewusstsein gewesen sein. Das Würgen hatte sie kampfunfähig gemacht, sie aber nicht getötet. Ich glaube, sie muss das Messer an ihrer Kehle gespürt und die Panik empfunden haben, nicht schreien zu können. Ich glaube, sie hat auf den kalten, harten Steinplatten oder in dem nassen Matsch des Hofes gelegen und Schmerzen empfunden, von denen der Rest von uns nur beten kann, sie niemals erleben zu müssen. Hat darauf gewartet, dass die Dunkelheit in ihrem Kopf immer größer wird, und hat gewusst, dass es für immer sein würde, wenn ihre Augen sich schlossen.
Als ich mit Joesburys Händen auf meinen Schultern in dem Bootsschuppen stand und mich fragte, wie ich weiterleben sollte wie bisher, begriff ich, dass Annie es leicht gehabt hatte. Denn selbst wenn es um Mord geht, ist alles relativ.
Annie dürfte schnell gestorben sein. Wahrscheinlich waren zwischen dem ersten Zugriff und ihrem letzten Atemzug nicht viel mehr als fünfzehn, zwanzig Minuten vergangen. Sie hatte es wohl nicht kommen sehen.
Das Sterben dieser Frau nun war nicht schnell gegangen. Diese Frau war nackt ausgezogen und an eine Werkbank in der Mitte des Schuppens gebunden worden, auf der normalerweise Boote repariert wurden. Ihre Arme waren unter der Bank durchgezogen und an den Handgelenken mit Klebeband zusammengeschnürt worden. Klebeband hielt sie um den Hals, unter den Brüsten und quer über dem Becken an der Werkbank fest. Der Mörder dieser Frau hatte sein Opfer bewegungsunfähig gemacht, damit er sich Zeit lassen konnte.
Annie hatte keine Zeit
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