Dunkle Gebete
weiter, doch meine Gedanken schweiften ab. Mir stand noch Urlaub zu, und es war lange her, dass ich Ferien gemacht hatte. Müdigkeit und die Nachwirkungen des Schocks hatten während der letzten Woche sehr seltsame Dinge mit meinem Verstand angestellt. Dann ging die Tür auf, und Mark Joesbury kam herein. Er trug einen Anzug, dunkelgrau mit ganz feinen Nadelstreifen. Sein Hemd war weiß und die Krawatte aus dunkelroter Seide, und ich hatte den Faden verloren.
Ich brauchte einen Moment, um ihn wiederzufinden. »Der Dutfield’s Yard war von einem Jüdischen Sozialistenclub aus gut einsehbar«, berichtete ich, nachdem ich kurz meine Notizen durchgegangen war. »Der war am fraglichen Abend voll. War bestimmt ziemlich laut. Um ein Uhr – fünfzehn Minuten, nachdem Elizabeth zum letzten Mal gesehen worden war – ging der Kellner des Clubs nach Hause und sah eine Frau mit durchgeschnittener Kehle am Boden liegen. Er beschrieb die Wunde später als klaffenden Schnitt, über fünf Zentimeter breit.«
Joesbury nahm neben Tulloch Platz. Er hatte sich rasiert.
»Er ging wieder hinein, um Hilfe zu holen, und die Polizei wurde herbeigerufen«, sagte ich, während Joesbury Tulloch etwas ins Ohr flüsterte.
»In Elizabeth Strides Fall sind drei Aspekte von Interesse. Erstens der rätselhafte Umstand, wie der Mörder sie kampfunfähig machen konnte.«
»Er hat seine Opfer doch zuerst gewürgt, oder nicht?«, warf ein Mann ganz hinten im Raum ein.
»Das wird angenommen«, stimmte ich zu, froh, meine Aufmerksamkeit auf jemand anderes richten zu können. »Aber es gab keine Anzeichen dafür, dass Elizabeth gewürgt worden war. Keine Quetschungen oder Prellungen an Hals und Gesicht. Der Arzt kam zu dem Schluss, dass ihr die Kehle von links nach rechts durchgeschnitten worden war, und zwar während sie auf dem Boden lag.«
»Die dachte bestimmt, der Kerl wollte was ganz anderes von ihr«, bemerkte Anderson. »Meiner Erfahrung nach liegen Frauen beim Sex immer auf dem Rücken.«
Unterdrücktes Kichern von verschiedenen Männern im Raum.
»Es hatte heftig geregnet«, entgegnete ich. »Der Hof war voller Matsch, und vielleicht sollten Sie ja mal ein bisschen Fantasie zeigen, Sarge.«
Wieder unterdrücktes Gekicher, diesmal in eher femininen Tonlagen.
»Freiwillig hätte sie sich da nicht hingelegt«, fuhr ich fort. »Es waren jede Menge Leute in der Nähe, aber niemand hat irgendwelche Kampfgeräusche gehört. Und sie hat ein kleines Päckchen Süßigkeiten in der Hand gehalten und nicht losgelassen, als sie zu Boden gezwungen worden ist. Er hat das Ganze schnell und ohne viel Aufhebens bewerkstelligt.«
»Diese Frauen haben doch alle getrunken, nicht wahr?«, fragte Joesbury. »War sie betrunken?«
»Der Leichenbeschauer hat gesagt, sie war nicht betrunken«, erwiderte ich und hielt den Blick dabei fest auf meine Unterlagen gerichtet. »Er hat ihren Mageninhalt überprüft und keinerlei Anzeichen für Alkohol oder Drogen gefunden. Die Polizei konnte sich damals beim besten Willen nicht erklären, wie er sie auf den Boden gekriegt hat.«
Draußen ertönte eine Hupe. Etliche Köpfe drehten sich zum Fenster.
»Ein weiterer Grund, warum Elizabeth Stride sich von den anderen unterscheidet, ist, dass sie nicht verstümmelt wurde«, fuhr ich fort, bemüht, jetzt zum Schluss zu kommen. »Die Wunde am Hals war die einzige Verletzung an ihrer Leiche. Kein anderer Teil von ihr war auch nur angerührt worden.«
»Der Täter war gestört worden«, sagte Stenning.
»In dieser Fernsehserie über den Ripper, die ich gesehen habe«, meinte Gayle Mizon und schob sich eine Cashewnuss in den Mund, »ist am 30. September nur ein Mord passiert. Elizabeth Stride galt nicht als Ripper-Opfer.«
»Das ist der dritte Aspekt, den ich ansprechen wollte«, erläuterte ich und lächelte Mizon rasch zu. »Nicht jeder Experte glaubt, dass der Ripper Stride umgebracht hat. Manche behaupten, der Mörder sei ein anderer Mann gewesen, weil sie nicht verstümmelt wurde und keine Würgemale aufwies.«
»Und das Gegenargument lautet, dass der Ripper Plan A aufgeben musste, weil er gestört worden war. Und dann seine Wut an seinem nächsten Opfer ausgelassen hat«, ergänzte Tulloch.
»Ja, das ist auch eine Möglichkeit«, meinte ich. »Das vierte kanonische Opfer des Rippers war Catharine Eddowes.« Wieder drückte ich auf eine Taste, und das Autopsiefoto erschien auf dem Bildschirm. Es zeigte Catharines nackten Körper, und man sah einen riesigen Schnitt,
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