Dunkle Gefährtin
Stuhl zu seiner Rechten war für Samantha freigehalten worden.
Tain bedeutete Samantha mit einer kleinen Geste, sie solle sich neben ihren Vater setzen. Dann stellte er sich hinter ihren Stuhl. Ihre Fragen, was er gemacht hatte und warum er plötzlich wieder aufgetaucht war, mussten warten. Nervös blickte sie sich an dem Tisch um, wo ihre Familie mit dem ersten Gang begann.
Es half nicht unbedingt, dass das, was man ihr sorgfältig auf dem Teller drapierte, lang, grau und nicht zu identifizieren war. Noch dazu pulsierte es schwach.
Tain beugte sich zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr: »Mergeler.«
»Was?«
»Es ist Mergeler«, erklärte Fulton, für den solche Kost offenbar normal war. »Ein Tier, das man nur in bestimmten Totenreichen findet und das sehr schwer zu erlegen ist. Eine Delikatesse.«
»Warum bewegt es sich?«
Ihr Onkel antwortete: »Sie brauchen sehr lange, bis sie sterben. Oft haben sie noch einen Puls, nachdem sie klein geschnitten und geröstet wurden – was übrigens besser so ist, denn dann sind sie noch voller Lebensessenz.«
Samantha lehnte sich abrupt zurück und ließ ihre Gabel fallen. Parkers Frau neigte sich zu ihr. »Hattest du etwa noch nie Mergeler? Na ja, ich vermute, du bleibst lieber bei toten Kühen.«
»Oder Salat«, gab Samantha zurück.
»Salate sind gut«, pflichtete ihre Tante ihr bei. »Vor allem mit Pilzlarven und Vampirblutwein.«
»Ich habe das Gefühl, dass die neue Matriarchin gern beim Chinesen bestellt«, höhnte Parker.
»Ach, ich liebe Chinesen!«, schwärmte seine Frau. »Koreaner sind auch sehr gut …«
Sie wurden unterbrochen, als die Türen aufflogen. Nun kam ein Dämon im maßgeschneiderten Anzug herein, bei dem Samantha das Gefühl hatte, er könnte seine Schneiderkleidung jeden Moment sprengen, um sich in ein fauchendes Monster zu verwandeln.
»Tristan«, raunte Fulton Samantha zu, »dein Cousin.«
»Da ist ja Samantha!«, sagte Tristan. »Unser Halbblut!«
In ihrem Job hatte Samantha schon reichlich hitzköpfigen, anmaßenden und unbeherrschten Tätern die Stirn geboten, und Tristan erinnerte sie an jeden Einzelnen von ihnen. Er starrte ihr wütend, eiskalt und vorwurfsvoll in die Augen.
»Setz dich, Tristan!«, befahl Fulton.
»Was ist
das
?«, fragte Tristan mit Blick auf Tain. »Was hast du in unser Haus gebracht, Fulton?«
Fulton drückte Samanthas Hand und sah seelenruhig über die Tafel hinweg zu Tristan. »Wenn Samantha unsere Matriarchin wird, entscheidet sie, ob sie sich von Tain beschützen lässt. Und angesichts dessen, was unserer letzten Matriarchin widerfuhr, bin ich dankbar für seine Hilfe. Sind wir uns immer noch einig?«
Anstelle der Vorwürfe und Verachtung, die Samantha erwartete, nickte die ganze Familie mit Ausnahme von Tristan; und ihre Tante mit den befremdlichen Geschmackspräferenzen lächelte ihr sogar zu.
»Ah, verstehe. Fulton hat euch mal wieder eine Gehirnwäsche verpasst«, giftete Tristan, der sich ans andere Ende der Tafel begab, wo sein Stuhl auf ihn wartete, setzte sich aber nicht. »Ihr wollt eine Halbdämonin und ihr
Schoßdings
über uns stellen, statt meine Kandidatin zu nehmen?«
»Kandidatin?«, fragte Samantha ihren Vater. »Ich höre zum ersten Mal von einer anderen Kandidatin.«
Fulton wirkte nervös und wandte das Gesicht ab.
»Sie heißt Ariel«, antwortete Tristan laut, »eine Vollblutdämonin. Sie weiß, wie sie mit der Bedrohung von Dämonen in Los Angeles fertig wird.«
»Ach ja?«, entgegnete Samantha.
»Dämonen sind stärker als Menschen. Es gab einmal eine Zeit, in der Menschen nichts als Nahrung für Dämonen waren, und Ariel wird uns diese glorreichen Tage zurückbringen.«
Samanthas Tante knuffte Parker in die Seite. »Mit ihm oben … auf ihr.« Parker lachte, und Tristan funkelte die beiden wütend an.
»Ariel entstammt einer rivalisierenden Familie«, erklärte Fulton ruhig, »und sie wird von der Hausdame unserer letzten Matriarchin gefördert.«
Samantha entging weder Tristans Misstrauen noch die offene Verachtung für Ariel bei allen anderen. Auf einmal passte alles zusammen.
»Verstehe«, sagte Samantha zunehmend zornig zu Fulton. »Lieber die Dämonin, die ihr kennt …«
»Genau«, fiel Fulton ihr ins Wort und nickte auch noch ohne einen Anflug von Scham. »Obwohl noch weit mehr Gründe zu nennen wären.«
Zweifellos gab es die. Samantha war jung und unerfahren genug, dass man sie dazu bringen konnte, die Bedürfnisse der Familie über alle anderen zu
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