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Dunkle Gewaesser

Dunkle Gewaesser

Titel: Dunkle Gewaesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe R. Lansdale
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Im ersten Stock roch es muffig; der alte Teppich hatte angefangen zu schimmeln. Durch ein Loch in der Decke am Ende des Flurs regnete es rein, und manchmal schlüpften auch Tauben hindurch. Daddy nahm sich immer vor, es zu reparieren, aber wenn er genügend Geld hatte, um Bretter zu kaufen, kaufte er stattdessen Whisky.
    Immerhin hatte ich ein eigenes Zimmer mit einem Schloss an der Tür. Die meisten Leute, die hier am Fluss lebten, hatten nicht mal das, und selbst Terry, der aus besseren Verhältnissen kam, schlief auf einer Pritsche im Wohnzimmer, zusammen mit vier anderen Kindern, die der neue Mann seiner Mutter mitgebracht hatte.
    Erst wollte ich in mein Zimmer gehen, blieb dann jedoch stehenund tappte den Flur entlang, um nach Mama zu schauen. Ihre Tür stand einen Spaltbreit offen, und ich sah sie auf dem Bett liegen. Zu meiner Überraschung war sie nicht allein. Selbst im Dunkeln konnte ich Daddy erkennen. Das Mondlicht schien, so schwach es war, auf sein Gesicht, und es sah aus, als würde er eine Maske tragen. Er lag halb unter der Decke und hatte sich mir zugewandt.
    Mama hatte viel zu viel Laudanum eingenommen, das war offensichtlich. Sonst hätte sie ihn nie bei sich schlafen lassen, nicht einmal als Fußwärmer.
    Während ich so dastand, öffnete Daddy die Augen und sah mich an. Nach einer Weile lächelte er, und die wenigen Zähne, die er noch hatte, schimmerten im Mondlicht.
    Ich runzelte die Stirn, schlug das Holzscheit in die offene Hand, bis sein Lächeln verblasste, schloss dann die Tür und ging davon.
    An meiner Tür kramte ich meinen Schlüssel hervor, schloss auf, machte sie hinter mir zu und schloss wieder ab. Ich zog mich aus, schlüpfte in mein Nachthemd und kroch ins Bett, das Holzscheit neben mir. Da lag ich nun, während das Mondlicht durch die dünnen Vorhänge fiel. Und tätschelte das Holzscheit wie eine Katze mit Rindenfell. Dabei dachte ich daran, wie Mama und Daddy beieinanderlagen, worüber ich eigentlich hätte froh sein sollen, aber das war ich nicht. Während der letzten Monate waren sie einander immer fremder geworden, und jetzt das.
    Ich kam zu dem Schluss, dass Daddy heute Nacht in Mamas Laudanumträumen ein weißer Ritter auf einem weißen Streitross gewesen sein musste, und sie hatte sozusagen die Burgtore aufgemacht und ihn reingelassen. Du meine Güte, das Laudanum log, dass sich die Balken bogen! Aber wie kam ich dazu, über sie zu urteilen? Sogar Wildschweine haben Bedürfnisse, und vielleicht haben sie sogar Träume.
    Das Bett war weich, und ich war müde. Halb träumte ich, halb lag ich wach. Ich träumte von mir und Jinx und Terry, wie wirden Sabine River runtersegelten, bis wir in Hollywood waren, wir segelten aus der Finsternis raus in gleißendes Licht, glitten eine breite, nasse Straße aus Wasser entlang. Rechts und links von uns, auf goldenen Ziegelsteinen, standen gutaussehende Männer und wunderschöne Frauen, alles Filmstars, Leute, die wir auf der Leinwand gesehen hatten. Sie winkten uns, während wir vorbeitrieben, und wir winkten zurück, segelten auf unserem geklauten Floß weiter, zusammen mit einem großen weißen Sack mit geklautem Geld, auf dem ein schwarzes Dollarzeichen prangte. Neben dem Sack stand eine goldene Urne mit May Lynns Asche.
    Entlang der Straße, auf beiden Seiten, hörten alle Leute – die wussten, wer May Lynn war und was sie hätte sein können, in welchen Filmen sie nicht mitgespielt hatte und was für eine Zukunft ihr nun verschlossen war – auf zu winken und brachen in Tränen aus. Wir segelten still die Straße runter, fort von ihnen, in eine finstere Schattenwelt hinein.

6
    Am nächsten Morgen weckte mich das Zwitschern einer Spottdrossel, die vor meinem Fenster auf dem Ast einer Pappel saß. Sie ahmte einen Singvogel nach und klang dabei so glücklich, als hätte sie sich das Lied selbst ausgedacht; die Spottdrossel ist ein Dieb, wie auch ich einer sein würde – jedenfalls wenn alles nach Plan verlief. Der große Unterschied war, dass sie sich in ihrer Haut wohlzufühlen schien und ich nicht, und dabei hatte ich noch nicht mal was geklaut, außer Zuckerrohr und Wassermelonen.
    Ich blieb eine Weile liegen und hörte ihr zu. Dann stand ich auf, zog mich an, entriegelte die Tür und ging mit meinem Holzscheit in der Hand hinaus. Ich wollte zu Mama, hatte aber Angst, Daddy könnte noch bei ihr sein. Also ging ich nach unten und schaute zum Fenster hinaus. Daddys Wagen war fort. Ich kramte in dem Warmhalter über dem Herd und

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