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Dunkle Gewaesser

Dunkle Gewaesser

Titel: Dunkle Gewaesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe R. Lansdale
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fand einen Zwieback, der härter war als das Herz eines Bankiers, und aß ihn, wobei ich achtgab, mir nicht die Zähne abzubrechen.
    Dann ging ich wieder rauf, klopfte an Mamas Tür, und sie rief mich rein. Im Zimmer war es dunkel – seit gestern Abend hatte jemand die Vorhänge zugezogen –, also ging ich zum Fenster und schob sie ein Stück beiseite. Sonnenlicht legte sich übers Bett, und ich konnte Mama sehen, die sich die Decke bis ans Kinn gezogen hatte, den Kopf auf dem Kissen hochgelegt. Sie trug das blonde Haar offen, und es umfloss ihr Gesicht wie verschütteterHonig. Ihr Gesicht war milchweiß, und ihre Knochen zeichneten sich noch deutlicher als sonst unter ihrer Haut ab, aber trotzdem war sie wunderschön. Sie sah aus wie eine Puppe aus Porzellan.
    Staubflocken drehten sich im Sonnenlicht, und Staubflocken bedeckten das untere Ende des Federbetts. In den Zimmerecken ballten sich Spinnweben so dicht wie pflückreife Baumwolle. Durch die Ritzen in der Wand wehte der Wind herein und wirbelte Staub auf. Mit etwas Muskelschmalz und einem Haufen Bauholz hätte sich das alles reparieren lassen, aber keiner von uns machte sich die Mühe. Wir lebten wie Ratten auf einem Schiff, von dem wir wussten, dass es sinken würde.
    Als ich mich auf den Polstersessel neben ihrem Bett setzte, lächelte Mama mich an. Der Sessel roch feucht und alt.
    »Ich würd ja gerne aufstehen und dir was zu essen richten, Kleines«, sagte sie, »aber mir ist einfach nicht danach.«
    »Macht nichts«, erwiderte ich. »Ich hab so was wie einen Zwieback gegessen.«
    »Das ist die Medizin. Davon wird mir ganz schummrig. Ich kann mich zu nichts mehr aufraffen, mit oder ohne.«
    »Ich weiß.«
    Sie sah mich lange an, als würde sie versuchen, mir unter die Haut zu schauen, und dann legte sie ein Geständnis ab. »Dein Daddy war letzte Nacht hier.«
    Ich hatte keine Ahnung, warum sie mir das erzählte, also hauchte ich ein »Oh«, als wüsste ich nicht, von was sie redete. Mir wäre es lieber gewesen, dieses Wissen wäre irgendwo verborgen geblieben, wo ich nicht rankam, zum Beispiel am Grund einer Schlangengrube.
    »Ich schäme mich so«, sagte sie und drehte den Kopf von mir weg. »Ich sollte dir das nicht mal erzählen, du bist ja noch ein junges Mädchen.«
    »Ich weiß ein paar Sachen, die du mir vielleicht nicht zutraust.«
    In Wirklichkeit ging ich davon aus, dass sie mich gesehen hatte, oder Daddy hatte es ihr erzählt, und jetzt fühlte sie sich genötigt, sich zu rechtfertigen.
    Langsam wandte sie sich mir wieder zu und sah mich an. »So genau kann ich mich nicht erinnern, aber heute Morgen wusste ich es. Er war hier. Letzte Nacht.«
    »Schon okay, Mama.«
    »Nein. Nein, das ist es nicht. Er taugt nichts.«
    So saßen wir eine Weile da, während sie mich anschaute und ich zu Boden blickte.
    Nach einer Weile sagte ich: »Wäre es schlimm, wenn ich von hier weggehen würde?«
    »Warum würdest du nicht weggehen wollen?«, erwiderte sie. »Hier hält dich doch nichts.«
    Das war nicht die Antwort, die ich erwartet hatte, und ich musste sie mir erst mal ein bisschen im Kopf rumgehen lassen, bevor ich mir sicher war, dass ich richtig gehört hatte.
    »Nein, Ma’am, hier hält mich nix.«
    »Nichts«, verbesserte sie mich. »›Nix‹ sagt man nicht.«
    »Entschuldige. Ich hab’s vergessen.«
    »Woher solltest du es auch besser wissen? Schließlich bist du nicht lange genug zur Schule gegangen. Und dass ich hier im Bett liege, ist deiner Bildung auch nicht eben zuträglich, aber ich kann mich einfach zu nichts aufraffen. Früher dachte ich mal, ich werde Lehrerin oder Krankenschwester.«
    »Wirklich?«
    »Klar.«
    »Mama, wenn eine Freundin von dir ertrunken wäre, und du hättest ihre Leiche gefunden, und sie wollte schon immer nach Hollywood gehen und ein Filmstar werden, wäre es dann verkehrt, sie auszugraben, nachdem sie beerdigt wurde, sie zu verbrennenund ihre Asche flussabwärts nach Gladewater mitzunehmen, um dort einen Bus zu kriegen, der nach Hollywood fährt?«
    »Was?«
    Ich wiederholte, was ich gesagt hatte.
    »Wovon redest du da? Wer ist das Mädchen, das du ausgraben willst?«
    »May Lynn.«
    »Die wunderschöne May Lynn?«, fragte sie, als gäbe es Dutzende davon.
    »Genau die.«
    »Gütiger Himmel, ist sie tot?«
    »Hat Daddy dir das nicht erzählt?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Du bist halt öfter mal nicht ganz da«, sagte ich. »Sie wurde vorgestern im Fluss gefunden. Jemand hat ihr eine Nähmaschine an die Füße

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