Dunkle Gewaesser
gebunden. Und gestern wurde sie beerdigt. Ich wollte dir abends davon erzählen, aber du warst völlig durch den Wind.«
»Und Don hat davon gewusst?«
»Ja, Ma’am. Er und Onkel Gene und ich und Terry haben sie doch gefunden.«
»Gütiger Himmel. Sie war noch so jung. Und vor gar nicht so langer Zeit hat sie ihren Bruder verloren und davor ihre Mutter.«
»Sie war genauso alt wie ich. Und sie ist nie von hier weggegangen. Sie wollte, aber sie hat es nie getan.«
»Dein Daddy war dabei, als sie gefunden wurde?«, fragte Mama, als hätte ich ihr das nicht bereits erzählt.
»Ja, war er.«
»Er hat kein Wort davon gesagt.«
»Kein Wunder. Er wollte sie und die Singer wieder ins Wasser werfen.«
»Er hält sich Probleme gerne vom Leib«, sagte sie, als würde das alles erklären.
»Das stimmt.«
»Und jetzt möchtest du fortgehen?«
»Ich weiß nicht, was ich will. Ich und Terry und Jinx …«
»Du triffst dich immer noch mit dem farbigen Mädchen?«
»Ja.«
»Oh, macht nichts. Ich habe nichts gegen sie. Mich wundert nur, dass du nicht so bist wie alle anderen.«
»Alle anderen?«
»Na ja, normalerweise spielen weiße und farbige Kinder so lange zusammen, bis sie groß sind, und dann trennen sich ihre Wege. So ist das nun mal.«
»Danke, dass du eine so hohe Meinung von mir hast.«
»So habe ich das nicht gemeint, Sue Ellen. Hier in der Gegend ist das einfach nicht üblich. Wahrscheinlich nicht nur hier, und außerdem beeinflusst sie, wie du sprichst. Du hörst dich an wie ein Tagelöhner.«
Sie hielt inne, als hätte sie plötzlich begriffen, was ich über May Lynn gesagt hatte.
»Ihr wollt May Lynn ausgraben, sie verbrennen und ihre Asche nach Hollywood bringen?«
»Das haben wir jedenfalls vor. Ob wir’s auch machen, wird sich zeigen.«
»Das ist ganz schön verrückt.«
»Das sagt die Richtige«, erwiderte ich und bereute es, kaum hatte ich es ausgesprochen.
Mama wandte sich von mir ab.
»So hab ich das nicht gemeint. Tut mir leid, Mama.«
Ihr Blick glitt ganz langsam wieder zu mir zurück. »Nein. Du hast ja recht. Ich hab mir nicht überlegt, was ich da gesagt habe. Und mir steht es wohl kaum zu, über irgendjemanden ein Urteil zu fällen, habe ich recht?«
»Du bist schon in Ordnung.«
»Nein. Nein, das bin ich nicht. Hör zu. Ich glaube nicht, dass ihr May Lynn ausgraben und verbrennen solltet. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das verboten ist. Wenn es eine Liste bizarrer Verbrechen gibt, dann steht das bestimmt darauf. Wie aus der Toilette essen und dergleichen. Das tut man einfach nicht. Also vergesst das. Aber es wäre bestimmt nicht falsch, von hier wegzugehen. Mir fehlt die Kraft für so ziemlich alles, nicht mal zur Mutter tauge ich mehr. Aber du solltest nicht hierbleiben. Wenn mir etwas zustößt, dann sind nur noch du und Daddy übrig … und das möchtest du nicht.«
»Ich will dich nicht hier mit Daddy allein lassen«, sagte ich. »Aber mit ihm allein bleiben will ich auch nicht. Er hat immer noch einen ziemlich heftigen linken Haken.«
»Wegen mir brauchst du nicht zu bleiben. Ich hab ihn gestern Abend reingelassen, obwohl ich mich nicht richtig daran erinnern kann. Das lag an dem Allheilmittel. Da bin ich immer ganz durcheinander. Und fühle mich so einsam.«
»Das Zeug heilt rein gar nix. Davon wirst du nur betrunken, und dann träumst du und hast für alles eine Ausrede. Du solltest die Finger davon lassen.«
»Davon verstehst du nichts«, erwiderte sie. »Es hilft mir, wenn es mir schlecht geht, und ohne geht es mir fast immer schlecht. Geh du besser fort. Ausgraben solltest du niemanden, das ist eine dumme Idee, aber du solltest fortgehen.«
»Ich hab doch gesagt, dass ich dich nicht mit Daddy allein lassen will.«
»Mit ihm werd ich schon fertig.«
»Aber das will ich nicht.«
Mama dachte lange über etwas nach. Fast konnte ich sehen, dass sich hinter ihren Augen etwas bewegte, wie eine Gestalt im Halbdunkel. Während der Zeit, die sie brauchte, um sich ihre Worte zurechtzulegen, hätte ich – wenn mir danach gewesen wäre – eineZigarre rauchen und vielleicht sogar den Tabak anbauen können, um mir noch eine zu drehen.
»Hör mir gut zu, Schätzchen«, sagte sie schließlich. »Das hätte ich dir schon vor langer Zeit sagen sollen, aber ich hab mich dafür geschämt. Ich wollte nicht, dass du weißt, was für eine Frau ich einmal war.«
»An dir ist nichts auszusetzen.«
»Und ob«, entgegnete sie. »Und zwar eine ganze Menge. Ich habe das vorhin
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