Dunkle Gewaesser
Morgen singt. Die Sonne, die jeden Morgen aufgeht. Der …«
»Na ja, vielleicht fällt Ihnen ja auch was Ungewöhnlicheres ein, das nicht jeden Tag passiert?«
»Sei nicht unhöflich, Jinx«, sagte Mama.
Nach dieser Bemerkung verschwand das Lächeln vom Gesicht des Reverend, und es wurde so still, dass man einen Spatz ganz oben auf einer Kiefer furzen gehört hätte. Ich dachte mir, dass ich Jinx bei Gelegenheit mal beiseitenehmen würde, um ihr zu erklären, dass es besser war, fromme Leute reden zu lassen, denn wenn man nicht dasselbe glaubte wie sie, ließen sie einen nicht in Ruhe, bis man selber fromm war oder sie anlog oder sich ertränkte, nur um seine Ruhe zu haben.
Schließlich kehrte das Lächeln auf das Gesicht von Reverend Joy zurück. »Ich kenne einen Mann, der einen furchtbaren Unfall gehabt hat. Sein Karren ist umgestürzt und hat ihm die Brust eingedrückt. Bis sie mit ihm beim Arzt waren, war er tot. Sie haben ihn aufgebahrt und die Familie gerufen, und als sie eintraf, wachte er auf.«
»Dann war er überhaupt nicht tot«, sagte Jinx. »Die Toten wachen nicht mehr auf.«
»Es war ein Wunder.«
»Er war nicht tot.«
»Aber der Arzt hat das gesagt.«
»Dann hat er sich eben geirrt.«
»Du warst doch gar nicht dabei«, sagte Reverend Joy.
»Sie etwa?«
»Jinx«, sagte Mama.
Jinx nickte und schlürfte ihren Tee. »Ist dieser Mann, auf den der Karren draufgefallen ist, von der Bahre aufgestanden, als wäre nix passiert?«
»Das ist er.«
»Auf der Stelle?«
»Nein. Er musste erst wieder gesund werden. Rippen und Brust mussten noch heilen.«
»Also«, sagte Jinx, »war das ein Wunder, zu dem es einen Doktor gebraucht hat, und er musste sich erst davon erholen.«
»Ja, aber Gott hat darüber gewacht.«
»Hm. Vielleicht hat er zugeschaut, aber getan hat er nicht viel. Und wo war er, als der Karren auf den Mann draufgefallen ist? Was hat er da getan? Wenn das ein Wunder war, ist mein Arsch weiß.«
»Jinx!«, rief Mama, aber da Jinx sie nicht besonders gut kannte, ließ sie sich davon nicht beeindrucken.
»Irgendwelche Leute erzählen immer, dass heutzutage noch Wunder passieren wie in der Bibel. Mama hat mir die Bibel vorgelesen, als ich klein war, und das hat mich vom Glauben geheilt. Dieses Alte Testament ist randvoll mit fiesen alten Männern, die ganze Stämme umgebracht haben und es auf die Frauen anderer Männer abgesehen hatten und manchmal sogar auf ihre eigenen Kinder. Und das sollen die Helden sein! Diese anderen Bücher, das Neue Testament über Jesus, die sind besser, aber da steht auch kein Wunder drin wie irgendein Wunder, von dem ich je gehört hab. Dieser Lazarus, der ist nicht von den Toten zurückgekehrt und musste sich dann erst eine Woche lang ausruhen, bevor er aufstehen konnte. Der war gleich wieder putzmunter. Und die Blinden und Krüppel, die Jesus geheilt haben soll, haben auch keinenDoktor gebraucht. Das waren Wunder, die sofort wirkten, nicht erst nach und nach. Die Krüppel sind aufgesprungen und losgerannt, und die Blinden haben gleich gesehen. So steht’s jedenfalls in den Geschichten. Und das, worüber Sie da geredet haben, ist was völlig anderes, egal was Sie dazu sagen. Bis jetzt hat mir noch niemand erzählt, dass irgendwelchen Leuten die Arme oder Beine, die sie verloren haben, wieder nachgewachsen sind. Oder dass sie plötzlich wieder ein gesundes Auge hatten, nachdem es ihnen jemand ausgestochen hat. Wenn ich das ab und an mitkriegen würde, würd’s mir vielleicht leichter fallen, an diesen ganzen Quatsch zu glauben.«
Reverend Joy hatte sich das alles angehört, ohne mit der Wimper zu zucken, aber seine Wangen waren feuerrot, und das Lächeln war ihm vergangen. Plötzlich herrschte eine Stimmung, als hätte gerade eine Kuh neben dem Tisch einen Fladen fallen lassen, aber keiner von uns wollte darüber reden.
Der Reverend starrte Jinx lange an und fand schließlich sein Lächeln wieder. Es war ein wenig schief, aber immerhin. »Weißt du, kleines Mädchen, so ganz falsch ist das vielleicht nicht, was du da erzählst. Gut möglich, dass es etwas voreilig von mir war, an ein Wunder zu glauben. Aber das heißt nicht, dass es keinen Gott gibt, der über uns wacht, und dass es keine Wunder gibt.«
»Ich glaube fest daran, dass er über uns wacht«, sagte Mama.
»Ich auch«, sagte Terry.
Ich beschloss, mich nicht festzulegen, sonder lieber den Mund zu halten.
»Du glaubst vielleicht nicht an ihn«, sagte Reverend Joy, »aber er glaubt an dich.
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