Dunkle Gewaesser
Schatten in der Hölle.«
Das waren ganz schön herbe Worte, und obwohl sie nach einem Zitat aus einem Buch klangen, trafen sie mich wie eine Faust zwischen die Augen. Verglichen mit dem Reverend waren Mama und ich und meine Freunde geradezu Unschuldslämmer. Ich fand es ziemlich beängstigend, warum manche Menschen religiös wurden. Genauso wie die Vorstellung, dass es kein allgemeingültiges Maß aller Dinge gab, sondern dass wir das selbst entscheiden mussten. Und ganz egal, was man anstellte, es kam nur darauf an, dass man sich nicht erwischen ließ und mit seinen Entscheidungen leben konnte. Das war eine ziemliche Offenbarung.
Wenn ich darüber nachdachte, wurde mir ganz kalt, und ich fühlte mich leer und einsam.
»Sie waren noch ein Junge«, sagte Mama zu Reverend Joy. »Sie haben etwas Schreckliches getan. Sie haben gestohlen und gelogen, aber Sie waren jung und hatten Angst. Das rechtfertigt nichts, aber es ist eine Erklärung.«
»Für mich klingt es wie eine Rechtfertigung«, sagte er. »Ich war böse.«
»Wenn das stimmt, haben Sie sich vom Bösen reingewaschen. Jack, Sie sind gerettet. Sie haben andere gerettet. Und Sie sind getauft, also werden Sie auch erlöst. Sie sind ein guter Prediger.«
»Gut oder nicht, damit ist es jetzt vorbei. Für mich gibt es keinen Grund mehr, hierzubleiben. Eigentlich steht mir das nicht zu, aber ich frage trotzdem: Kann ich Sie begleiten? Mir ist egal, wohin, Hauptsache von hier weg. Nehmen Sie mich mit?«
»Das hängt wohl von den Kindern ab, jedenfalls zu einem gewissen Grad. Wir werden sie fragen müssen. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich als Nächstes tun möchte. Aber als Erstes werde ich wohl flussabwärts fahren.«
»Was ist mit Ihrer ersten Liebe – dem Mann in Gladewater?«
»Keine Ahnung. Das ist lang her. Die Erinnerung an ihn hat mir die Kraft gegeben, aufzustehen und aufs Floß zu gehen, aber ich weiß nicht, ob es eine so gute Idee ist, die Vergangenheit auszugraben wie einen alten Sarg. Was da drin liegt, stinkt vielleicht.«
Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht. Ich war stillschweigend davon ausgegangen, dass alles wieder so sein würde wie vor siebzehn Jahren, mit mir und Mama und Brian als einer glücklichen Familie. Noch so eine Offenbarung, und sie gefiel mir nicht im Geringsten. Unwissenheit hat eine Menge für sich.
»Werden Sie den Kindern erzählen müssen, was ich getan habe?«, fragte er. »Oder soll ich das tun?«
»Besser nicht. Ein andermal vielleicht, wenn Sie sich das alles von der Seele reden wollen. Aber was geschehen ist, ist geschehen, und ändern können wir daran nichts. Sie genauso wenig wie ich. Wir werden unsere Dornenkronen tragen müssen. So viel wir auch reden, abnehmen können wir sie nicht.«
»Meine Dornen sind schärfer«, sagte er. »Aber das sollten sie wohl auch sein. Meine Erinnerung macht mich sterbenskrank, und ich wollte, dass Sie das wissen. Fast geht es mir jetzt besser. Mein Gewissen plagt mich noch immer, aber darüber zu reden war mir trotzdem eine große Hilfe. Hoffentlich habe ich Ihnen keine allzu große Last aufgebürdet.«
»Nichts, was ich nicht tragen kann.«
»Das weiß ich sehr zu schätzen, Helen. Wirklich. Brechen wir morgen auf? Ich werde mein Predigeramt niederlegen müssen, aber das hatte ich sowieso vor. Was nicht heißt, dass ich eine Kündigung aufsetzen muss. Ich muss nur einfach weggehen. Es bringtnichts, dem Wind zu predigen. Die Hütte werde ich räumen müssen. Sie gehört dem Gemeindeprediger, und ich werde kein Prediger mehr sein.«
»Also gut«, sagte sie. »Wir können das Floß morgen früh beladen. Dann brechen wir auf.«
Ich sah, wie Mama den Kopf des Reverend mit den Händen umfasste, und dann verschmolzen ihre Schatten miteinander. Ich wusste, dass sie ihn küsste. Mir wurde immer mehr bewusst, dass ich meine Mutter gar nicht kannte.
Sie redeten noch eine Weile, hielten Händchen, und Reverend Joy weinte sogar. Sie legte die Arme um ihn, und sie beugten sich vor und küssten einander wieder, und dieses Mal war es richtiges Küssen – was Jinx »Schmatzmäuler« nennt.
Mehr wollte ich nicht sehen, also stand ich auf, schlich zurück ins Haus und legte mich auf meine Pritsche. Ich musste in einem fort an Jaren denken und wie er gestorben war, an einen Baumstumpf festgebunden, und nur wegen einer Lüge. Und dann musste ich an Mama denken und dass sie ein besserer Mensch war, als ich geahnt hatte, und dass sie und der Reverend da unten waren, rumknutschten
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