Dunkle Häfen - Band 1
Schwestern alles, was er wusste. So konnten sie lesen, schreiben und rechnen und waren zudem umfassend über Politik, Geschichte und Naturwissenschaften informiert. Martha hörte sich ein wenig bitter an, wenn sie meinte, wäre sie ein Mann gewesen, müsste sie nicht als Näherin arbeiten, sondern hätte mit ihrer Bildung viel erreichen können. In ihrem Beruf war Wissen allerdings unnütz.
"Dies ist eine Welt der Männer, Ramis", sagte sie einmal zu ihr. "Vergiss nie, dass du als Frau doppelt so hart arbeiten musst, um frei und unabhängig zu werden. Wenn du nicht heiratest, wirst du immer im gesellschaftlichen Abseits stehen. Du musst stark sein, um hier zu bestehen."
Ramis hörte aufmerksam zu, doch die Worte hatten noch wenig Belang für sie .
Martha gab nun das Vermächtnis ihres Vaters, sein Wissen und sein Lebensmut, der ihn nie verlassen hatte, an Ramis weiter. Auch die bescheidenen Lese- und Schreibkünste des Mädchens vervollständigte sie nach Möglichkeit. Oft glaubte Ramis, dieses oder jenes, was Martha erzählte, schon einmal gehört zu haben. Aber so sehr sie sich auch anstrengte, den Schleier der Vergangenheit zu lüften, nie gelang es ihr. Jedes Mal war es ihr, als versuche sie, sich durch zähflüssigen Nebel zu kämpfen. Sie erinnerte sich nur an ein paar der Empfindungen, die sie damals gehabt haben musste. Da waren sowohl Liebe und Geborgenheit, aber auch Schmerz, Trauer und Angst. Ramis wusste, sie würde sich dem eines Tages stellen müssen. Warum auch immer, die Zeit dafür schien noch nicht reif zu sein. Auch die Erinnerung an die Zeit der Leere, nach dem Ereignis, das ihr Leben verändert hatte, war nur noch ungenau. Erst als sie wieder begann, bewusster zu leben, verschwanden allmählich auch der Nebel und die Leere ein bisschen. Ihre Umgebung bekam wieder eine Bedeutung und sie konnte allem einen Namen zuordnen.
Die große Stadt mit ihren vielen Menschen hieß London und war die Hauptstadt dieses Landes, England. Die Namen kamen Ramis vertraut vor, obwohl sie keine Zweifel daran hatte, niemals in dieser Stadt gewesen zu sein. Daher war sie sich sicher, ihre Vergangenheit nicht hier finden zu können. Von Martha erfuhr sie, dass man das Jahr 1692 schrieb und König William und Königin Mary das Land regierten. Das genügte Ramis fürs erste, doch bald wollte sie mehr wissen. Sie fragte Martha aus und erfuhr eine Menge über die Welt rings um sie herum. Martha erklärte ihr, Sir Edward gehöre zu den einflussreichsten und mächtigsten Männern am englischen Hofe. Man sah ihn sehr selten, denn meistens war er außer Hause bei gesellschaftlichen Anlässen oder Zusammenkünften des Parlaments, das seit 1688, dem Jahr der Glorious Revolution und zugleich dem Krönungsjahr des Königspaars, sehr viel Macht errungen hatte. Die Entwicklung zu diesen Ereignissen begann schon im 15. Jahrhundert, als sich unter Henry VIII England vom Papst abspaltete und an die Stelle der katholischen Kirche die anglikanische trat. Seitdem hatte es zahlreiche Versuche gegeben, das Königreich wieder zum alten Glauben zurückzuführen, die stets mit Mord und Totschlag endeten. Zuletzt hatte der Machtkampf zwischen Parlament und König Charles I Mitte des 17. Jahrhunderts einen Bürgerkrieg entfacht und Oliver Cromwell ließ als Sieger den König enthaupten, um sich dann selbst als Lord Protector an die Spitze der neuen Republik zu setzen. Nach seinem Tod stellte der Sohn des hingerichteten Königs, Charles II, die Monarchie wieder her.
Die letzten Zwischenfälle begannen damit, dass sein Bruder James II 1685 neuer König wurde, nachdem Charles ohne legitimen Erben gestorben war. James II hatte eine ausgeprägte Vorliebe für den katholischen Glauben. Mit der Zeit wurde er zunehmend intoleranter gegenüber den protestantischen Gefolgsleuten. Das behagte dem Parlament gar nicht. Der Konflikt spitzte sich zu. Als er eine französische Prinzessin heiratete, um sie zur neuen Königin zu machen, nahm man ihm das sehr übel, denn Frankreich war der andersgläubige Feind und Konkurrent. Seine streng katholische Politik und das Machtstreben von Frankreichs Sonnenkönig Louis XIV stießen auf Ablehnung bei den Engländern. Das politische Klima war sehr gespannt, ständig gab es kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den Großmächten. Louis XIV unterstütze heimlich auch den Versuch, England zu 'bekehren'. Natürlich wäre ihm ein Bürgerkrieg zwischen den religiösen Gruppen auf der Insel recht gewesen, denn damit
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