Dunkle Häfen - Band 1
hielt, musste diese Beweise für ihren adeligen Stammbaum vorweisen können. Etwas davon zu zerstören, würde unsagbaren Ärger mit den Herrschaften geben. Da sich die ranghöheren Bediensteten lieber vor dieser mühseligen Arbeit drückten und nur ab und zu auftauchten, um die Fortschritte zu begutachten oder bereits wieder zurückgestellte Möbel neu verrücken zu lassen, war das Ganze ein eher zwanglose Angelegenheit. Großes Gelächter gab es immer, wenn jemand einen schon lange vermissten Gegenstand hinter einem Schrank wieder zu Tage förderte.
Wahre Erheiterungsstürme löste die lieblich rosa Schlafhaube mit den zarten Rüschen aus, die der Köchin gehört hatte. Das gute Stück war seit ungefähr einem Jahr verschollen. Nachdem die Köchin alles durchsucht hatte, kam sie zu der festen Überzeugung, das Zimmermädchen hätte sie entwendet. Warum dieses so eine seltsame Haube hätte stehlen wollen, fragte sie nicht. Sie ließ sich auch von dessen Unschuldsbeteuerungen nicht v on ihrer Meinung abringen. Das Zimmermädchen, das Lettice hieß, entkam nur knapp einem Rausschmiss und musste stattdessen zwei Wochen lang Strafdienst verrichten.
Nun war die Haube also doch wieder aufgetaucht und Lettice stieß eine Verwünschung auf die Köchin aus, die ihre Mütze wohl selbst verloren hatte. Mit einem schelmischen Grinsen schüttelte sie die Schlafhaube aus und setzte sie sich dann auf den Kopf. Anschließend stapfte sie breitbeinig herum und brüllte den Anwesenden mit tiefer Stimme die unmöglichsten Befehle zu. Sie amte damit die Köchin so treffend nach, dass alle sich vor Lachen bogen. Jeder hatte schon Erfahrung mit dem tyrannischen Gehabe dieses Drachens gemacht. Lettice sah wirklich zum Schreien aus, mit der gewaltigen Haube, die ihr ins Gesicht hing. Die Vorstellung fand ein abruptes Ende, als die Köchin von dem Lärm angelockt wurde. Bei ihrem Anblick mussten viele erneut losprusten, was sie sichtlich verärgerte. Es gelang Lettice gerade noch, die Haube hinter ihrem Rücken zu verstecken. Zornig schickte die Köchin die kichernden Diener wieder an die Arbeit. Ramis und Lettice wurden angewiesen, die Bibliothek zu säubern.
Ramis schlurfte also müde hinter Lettice her, die munter drauf losschwatzte. Dem Mädchen kam in den Sinn, dass Martha zu ihr gesagt hatte, Lettice sei ein leichtlebiges und flatterhaftes Ding,
Auf die Frage, was das eigentlich bedeute, meinte Mart ha nur:
"Sie gibt sich mehr mit Männern ab, als gut für sie wäre."
Das verwirrte Ramis, aber sie fragte nicht weiter, da es anscheinend wieder so ein Tabuthema war. Sie hatte schon oft von Martha gehört, dass Männer irgendwie gefährlich seien und sie am besten nicht in deren Nähe kam. Deshalb mied sie jeglichen Kontakt mit den männlichen Bewohnern des Hauses. Das war allerdings auch nicht besonders schwer, denn außer zum Arbeiten sprach man sie für gewöhnlich nicht an.
Plötzlich sagte Lettice: "Ramis, ich muss kurz die Haube in mein Zimmer bringen. Geh doch schon mal vor in die Bibliothek und warte da auf mich!"
Ehe Ramis etwas entgegnen konnte, war Lettice schon weg. Ihr blieb nichts anderes übrig, als allein weiterzugehen. Es bereitete ihr Unbehagen, durch die stillen, düsteren Gänge zu wandern, noch dazu in einem Teil von Maple House, den sie weniger kannte. Das Haus war riesig, in vielen Zimmern, die ungenutzt waren und nicht einmal während solcher Großputzaktionen gesäubert wurden, lag uralter Staub dick auf den Möbeln. Ramis hörte kein einziges Geräusch außer ihren eigenen Schritten. Hier kam kaum jemals einer her. Beklommen schlich sie weiter. Während sie möglichst leise den Weg zur Bibliothek suchte, überlegte sie, dass es noch viel gab, was sie nicht verstand. Da waren zum Beispiel die zotigen Scherze und gemurmelten Andeutungen, deren übertragener Sinn sich ihr entzog. Niemand wollte es ihr erklären und wenn sie fragte, wandten sich die Leute verlegen ab oder lachten über sie.
Auch Martha wehrte nur ab: "Halte dich einfach von den Männern fern, mehr musst du nicht wissen."
Martha hatte große Angst um das Mädchen und hoffte so, die Verderbtheit in der Welt von ihr fernzuhalten.
Ramis dachte, wie merkwürdig diese Leute doch waren. Sie waren so anders als sie selbst. Nun stand sie vor der dicken, kleinen Türe aus teurem Ebenholz, die zur Bibliothek führte. Zögernd betrat sie das Zimmer. In der Luft lag ein Geruch, den Ramis sofort erkannte. Es roch nach Staub und altem, vergilbtem Papier.
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