Dunkle Häfen - Band 1
verdient, Tante."
"Vielleicht. Ich habe keinen mehr gehasst. Und doch, jemand em in die Augen zu sehen, während er stirbt, das prägt dich für dein ganzes Leben. Es lässt dich nie wieder los. Es treibt einen in den Wahnsinn. Manche können kalt bleiben, wenn sie jemanden töten und ihm in die Augen schauen. Doch ich kann es nicht. In meinem Kopf sind Stimmen, die mich verfolgen. Aber ach, was rede ich! Lassen wir das."
Ich durfte ihn nicht mit solchen Problemen belasten.
"Oh Mutter!" Er legte mir den Arm um die Schultern, als wäre ich das Kind.
Da konnte ich nicht mehr an mich halten.
"Es ist alles so lebendig..." , klagte ich und meine Augen brannten. Tränen verwandelten mein Gesicht in eine Wüste. "Niemand wollte verstehen, wie es für mich war! Alle meinten, ich solle so tun, als ob nichts wäre! Nichts! Mein Körper und meine Seele wurden zerstört und keiner wollte es wissen! Um mich war nur Dunkelheit und Kälte..."
Ich kann nicht sagen, ob er mich verstand, aber seine Anteilnahme und seine Liebe halfen mir. Er lehnte sich stumm an mich.
"Weißt du, was meinem Leben wieder einen Sinn gegeben hat?"
"Was, Tante?"
Ich antwortete nicht, sondern strich ihm nur zärtlich übers Haar.
Du, Edward, das warst du. Und du ahnst gar nicht, welche unglaubliche Ironie des Schicksals das ist.
Ein paar Wochen später, August 1705, Karibik
Meine Wunden sind mit der Zeit zu juckenden Schorfen geheilt und mein Arm hat sich ordentlich gebessert. Der Druck, der in den letzten Tagen auf meiner Brust gelegen hat, ist fast verschwunden. In Kürze werden wir die Insel erreichen. Kaum einer auf der Fate kann seine Hochstimmung und Aufregung verbergen. Einen Schatz zu finden! Es ist ein Traum, der beinahe zu schön ist, um wahr zu sein. Kein Hunger mehr, nicht mehr töten zu müssen... Das Wetter ist ausgezeichnet heute, der stetige Wind treibt uns voran. Und der Himmel ist von einem so intensiven Blau, wie man es selten sieht. Jetzt, am Morgen, ist es noch nicht zu heiß, sogar angenehm kühl. Es könnte sehr idyllisch sein, wenn nicht die Männer einen Spuckwettbewerb veranstalten würden, was leider eine recht unappetitliche Sache ist. Das Geräusch, das sie machen, wenn sie den Speichel sammeln, ist widerlich. Wie Lappen hängen diese großen Männer über der Reling und spucken ins Meer. Ich muss mich manchmal über die Welt wundern.
"Hey, Käpt'n! Willst du nich' auch mitmachen?" , ruft einer mir zu. "Woll’n sehen, was 'ne Frau so schafft!"
Sie brüllen vor Lachen. Ich mustere sie leicht irritiert mit gerunzelter Stirn. Mir entzieht sich leider die Witzigkeit des Ausspruchs.
"Musst ja nich' gleich beleidigt sein, Käpt'n. Wenn du uns so missbilligend anguckst, kommen wir uns wie kleine Kinder vor."
So kommen sie mir im Augenblick tatsächlich vor und meine Miene wird noch missbilligender. Schließlich verlasse ich meinen bisherigen Platz, die Männer stören zu sehr. Am Bugspriet ist es angenehmer und ich kann wieder in Ruhe schreiben. Ich genieße den Wind, der mir das Haar zaust und mich so zart liebkost. Über mir bauschen sich flatternd die Segel und ein überschäumendes Gefühl überkommt mich. Frei! schreibe ich groß über den Rest der Seite. Einen Augenblick der Freiheit. Sie sind so selten, diese Momente des trägen Freiseins. Ich denke einfach gar nichts, die Sorgen scheinen fern. Die Sonne wärmt mich und ich fühle mich einfach wohl.
Ich kann Fanny sehen, die mit William im Schatten sitzt und döst. Gerade noch ist ein Albatros durch den blauen Himmel geschnitten. Es heißt, er sei die Verkörperung der Seelen der toten Seeleute und bei seinem majestätischen Flug und seiner Einsamkeit kann ich da gut glauben. Vielleicht war es Bess, die nach uns Ausschau gehalten hat. Ich lächle dem Vogel freundlich nach, für den Fall, dass es wirklich Bess ist. Einen guten Flug! Was auch immer sein Ziel sein mag. Eigentlich, so fällt mir ein, gehören eher die zänkischen Möwen zum Seemann, denn sie sind sein ständiger Begleiter. Es wäre ungewöhnlich, in einen Hafen einzulaufen und nicht ihr Geschrei zu hören. Ab und zu kreisen sie auch über dem Schiff. Aber obwohl die meisten Seemänner in ihrem Leben ebenfalls zänkisch waren, so passt doch der geheimnisvolle Albatros besser zum Tod. Früher habe ich die Vögel beneidet, weil sie stets wegfliegen können. Ich wünschte mir, ich könne die Flügel ausbreiten und sein wie sie, gedankenlos am blauen Himmel kreisen. Dann könnte man sogar einem
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