Dunkle Häfen - Band 1
weiß sie, dass du alleine zurechtkommst. Du bist stark, was auch immer du glaubst."
"Das kann doch kein Abschied für immer sein! Es ist doch nicht möglich, dass wir uns nie wiedersehen!"
Martha nahm Ramis in die Arme und drückte sie so fest an sich, als würde sie nicht mehr loslassen.
"Es muss sein. Doch vergiss nicht, du bist meine Tochter und in meinem Herzen hast du immer deinen Platz. Ich werde jeden Tag für dich beten."
Martha liefen jetzt auch die Tränen übers Gesicht.
"Ramis, versprich mir noch eines: Gib niemals auf ... Egal, was auch passiert, mach weiter. Das Leben ist nicht nur Leid. Es kann auch wunderschön sein. Versprich es mir!"
"Ja, Martha, ich verspreche es dir."
Jemand rief vom Haus aus Marthas Namen. Es war Francis.
"Ich muss gehen. Also, dann noch viel Glück, mein Kind. Du bist stärker als alles Unglück. Ich weiß, mein Vater wäre stolz auf dich."
Mit diesen Worten ließ sie Ramis los und eilte davon, voller Angst, dass sie es nicht ertragen konnte, wenn sie noch länger blieb. Mit tränenverschleierten Augen blickte Ramis ihr nach.
"Danke ", flüsterte sie erstickt, doch Martha verschwand bereits im Haus. "Danke für alles!" Ihre Worte verhallten ungehört zwischen den Bäumen.
Sie fühlte sich ausgelaugt, als sie bangen Schrittes zu dem kleinen Türchen ging, das aus dem Garten führte. Alles war viel zu schnell gegangen und die Dinge hatten sich derart überstürzt, dass sie gar nichts mehr wahrhaben konnte. Sie blieb regungslos stehen, als unerwartet jemand zwischen dem Gesträuch hervorkam und ihr den Weg versperrte. Es war der Gärtner. Wild sah sich Ramis nach einem Fluchtweg um, doch sie wusste, es war zwecklos. Es gab keinen anderen Ausgang. Der Mann vor ihr machte allerdings keine Anstalten, sie gefangen zunehmen.
"Ich glaube, du hast etwas vergessen." Er reichte ihr ein Bündel.
Überrascht erkannte Ramis die rosa Schlafmütze. Sie wollte ihm danken, aber er war so plötzlich verschwunden, so wie er gekommen war. Sie krallte ihre Finger in die Mütze und das Bündel, als sie das Türchen öffnete, das wohl der Gärtner für sie aufgeschlossen hatte, denn sonst war es immer verschlossen.
Sie stahl sich aus dem Haus wie die Mörderin, die sie nun war. Kurz bevor das Tor hinter ihr zufiel, warf sie noch einmal einen Blick auf Maple House. Hoheitsvoll stand es in der Frühlingssonne, wie es das seit Ewigkeiten tat und es auch noch lange tun würde. Dort drinnen versuchte Martha, sich zu verteidigen und zwischen ihnen war so vieles ungesagt, was immer selbstverständlich zu sein schien. Nichts war mehr, wie es gewesen war. Nun war es zu spät, Martha zu sagen, wie unfassbar viel ihr ihre Freundschaft bedeutet hatte. Martha war das einzige für sie gewesen, was sie im Leben hielt, der einzige Trost in der Dunkelheit. Und jetzt war sie allein. Zu spät...
Ramis schritt einsam hinaus auf die Straße, in eine Welt, die ihr nur Grausamkeit gezeigt hatte. Alles, was sie gekannt hatte, diese zugleich kurzen und langen sieben Jahre, ließ sie hinter den dicken Mauern zurück. Sie befand sich völlig allein inmitten einer fremden Welt.
Teil 2
Das Feuer hat zwei Seiten:
Eine, die Licht spendet und wärmt
Und auch eine, die verbrennt und zerstört
Ein neues Leben
Südwestengland, 1698
Der Himmel wölbte sich strahlendblau über den sanft gewellten Hügeln und brachte eine solche Explosion der Farben hervor, dass ihr gleißendes Leuchten in den Augen schmerzte. Es war Frühsommer des Jahres 1698 und die Bäume standen noch in voller Blüte. Selbst die junge Frau, die vom Leben erschöpft hinten auf dem Trödelkarren zwischen den Waren saß und ihre Beine baumeln ließ, konnte sich der Leichtigkeit des schönen Tages nicht entziehen. Hier im Tageslicht war kein Platz für Gespenster. Nach den engen Gassen Londons, die Ramis immer so bedrohlich erschienen waren, war das hier richtig befreiend. Man konnte bis zum Horizont sehen und um sie herum war so viel Platz...
Vor kurzem hatte sie sich noch miserabel gefühlt, doch die goldenen Sonnenstrahlen wärmten bis ins Mark und löschten jeden Gedanken aus. Sie hatte London so verlassen, wie sie einst gekommen war: in einem alten Karren. Dafür und vor allem für die überstürzte Kutschfahrt aus London heraus, mit einem viel zu teuren Mietsgefährt, hatte sie schon ihr gesamtes Geld ausgegeben. Doch die Eile war nötig gewesen, sicher suchte man sie bereits und sie hätte zu Fuß viel zu lange gebraucht.
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