Dunkle Häfen - Band 1
würden sie es dafür im Himmel besser haben. Aber Ramis war sich sicher, dass sie nicht in den Himmel kommen würde. Ihr war ein anderes Schicksal bestimmt. Schon seit langer Zeit hatte sie die Hoffnung verloren, dass ihr Leben besser würde.
Ganz im Gegenteil, als Sir Edward sie in sein Zimmer rufen ließ, raubte er Ramis selbst ihre letzte Zuflucht, in sie die sich verkrochen hatte: ihre Leere... Es interessierte ihn nicht, dass jeder Mensch nur ein gewisses Maß an Qual ertragen konnte und das war bei dem Mädchen längst überschritten. Ramis wehrte sich erbittert und kämpfte wie eine Irre, als Francis sie brutal zu Sir Edwards Zimmer schleifte. Er drehte ihr die Arme auf den Rücken, bis sie vor Schmerz aufschrie und gab ihr eine Kopfnuss. Sir Edward erwartete sie bereits. In letzter Zeit war er sehr oft weg gewesen, weil er auf Festen und Essen eingeladen war. Obwohl er das Spiel um Macht und Einfluss am meisten liebte, hatte er heute alles abgesagt. Er brauchte kleine eine Pause von dem Verstellen und dem schönen Schein und wollte sich entspannen. Und die kleine Ramis war sein Opfer. Sie hatte etwas an sich, das einfach provozierte. Diese Mischung aus Widerstand und Gleichgültigkeit, die an Nachgiebigkeit grenzte, reizte ihn. Und an ihr war noch so viel mehr, als irgendjemand ahnte. Sie war wie geschaffen für dunkle Geheimnisse. Er lächelte, als die Tür aufgestoßen wurde und Francis das Mädchen geradezu herein schleuderte. Ramis fiel über eine Teppichfalte und landete auf dem Boden. Ihr strähniges Haar war wirr und tiefe Schatten lagen unter ihren Augen. Ihm entging nicht, wie eingefallen ihre Wangen waren. Wie ein wildes Tier starrte sie zu ihm hoch, dann stand sie schwankend auf.
"Francis, du kannst gehen."
Als Francis gegangen war, sah er sie an.
"Wir haben uns l ange nicht mehr gesehen", begann er wie beiläufig. Kalte Gier sprach aus seinen Augen. "Du bist dünn. Isst du vielleicht nicht genug? Oder", ein schmieriges Grinsen huschte über seine Züge, "hast du dich noch nicht von deinem ... Unfall erholt?"
Sie zitterte am ganzen Körper, als hätte sie Fieber, ob aus An gst oder Hass, wusste sie nicht.
"Weißt du, Semi, es tut mir ehrlich leid um unseren Sohn, aber denkst du nicht, dass es besser so ist?"
Es war ein e Lüge, er bedauerte gar nichts.
Ramis musste sich an die Wand lehnen, eine Schwäche überfiel sie.
Man hatte ihr gesagt, das Kind wäre ein Junge gewesen, wunderschön und vollkommen. Aber er musste sterben, wegen ihm... Als Mrs Barnes von dem Geschrei angelockt wurde, war es schon zu spät. Wären sie doch noch später gekommen, dann wäre sie auch tot! Ramis hatte ihr Baby nicht einmal gesehen, es nicht berühren können. Ein Teil von ihr weigerte sich, seinen Tod zu akzeptieren, weil sie sich nicht hatte verabschieden können. Es hinterließ ein klaffendes Loch in ihr. Das Kind hatte keinen Namen bekommen, war ohne Taufe gestorben. Der Gärtner zimmerte einen kleinen Sarg und sie begruben es heimlich im Garten, unter den uralten Eichen. Bei der feierlichen Beerdigung waren nur Martha und der Gärtner anwesend. Ein kleiner Grabstein mit einer einfachen Jahreszahl und einem Kreuz als Inschrift, stand verborgen im Gebüsch. Das Kind ruhte in ungeweihter Erde, doch jeden Tag lagen frische Blumen auf seiner letzten Ruhestätte, die Ramis ihm brachte. Sie betete für es, wenn schon nicht für sich selbst, denn sie glaubte nicht mehr, dass sie erhört wurde.
Sir Edwards Spott war einfach zuviel. Er zerriss alles, an was sie sich noch geklammert hatte. Seine nächsten Worte vernahm sie wie durch einen schwarzen Schleier.
"Aber das macht alles nichts. Sicher werden wir bald ein neues Kind bekommen. Zumindest, wenn ich das zulasse. Ich finde schwangere Frauen abstoßend, sie widern mich zutiefst an."
Er lachte und streckte eine Hand nach ihr aus.
"Du musst mir glauben, eigentlich wollte ich dein Kind nicht töten. Es kam so über mich."
"Nein..." Sie hauchte es so leise, dass er es gar nicht hörte.
"Dennoch, machen wir uns eine schöne Zeit."
"Nein!" Es war ein wenig lauter, aber er beachtete es nicht.
Gemächlich drehte er sich zur Seite, um sein Wams über den Stuhl zu hängen. Ramis wusste nicht, woher sie auf einmal das Messer hatte. Eine eisige Kälte hatte sie erfasst. Es war ein wunderschöner Dolch mit edelsteinbesetzten Griff. Diesen einen Augenblick war ihre Hand so ruhig, als gäbe es das brodelnde Chaos in ihr nicht. Vollkommen nichtige Einzelheiten
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