Dunkle Häfen - Band 1
einmal treffen würde. Ramis konnte ihnen jedoch keine Gesichter geben, so sehr sie das auch versuchte. Das einzige, was ihr ständig dabei im Kopf herumging, war, dass man sie glücklich in die Arme schließen und nach Hause bringen würde, ein Ort an dem sie sicher war und wo sie hingehörte.
Dachte sie an eine Mutter, so war es immer Martha, die sie vor Augen hatte und die sie beim Abschied verzweifelt 'meine Tochter' nannte. Daran erinnert zu werden, betrübte sie erneut. Mit hängenden Schultern machte sie sich auf den Weg in die Stadt, ihr mageres Bündel geschultert. Bristol erwies sich tatsächlich als recht groß, wenn es natürlich auch nicht Londons Ausmaße erreichte. Auch hier herrschte geschäftiges Treiben auf den Straßen. Ramis musste einer eleganten Kutsche ausweichen, die rücksichtslos an ihr vorbeipreschte. In London hatte sie viel prächtigere gesehen, allen voran die von Sir Edward. Aber sie wollte jetzt nicht an Kutschen und ihre Besitzer denken, sie hasste die Erinnerung daran.
Ziel- und orientierungslos irrte sie durch die Straßen, sie hatte keine Ahnung, was sie nun tun sollte. Wohin sollte man in einer fremden Stadt ohne Geld und ohne Perspektive gehen? Allmählich näherte sie sich dem Hafen, magisch angezogen vom Hafengeruch. Am Himmel kreiste eine Möwe und schrie klagend. Ramis blickte zu ihr auf und überlegte, was sie wohl suchte, Nahrung oder ihre entschwundenen Gefährten.
Als sie die Kais erreichte, staunte sie. Das Ufer war befestigt, ein Kanal, in dem zahlreich stolze Segelschiffe ankerten, die Waren aus aller Welt nach England brachten. Überall liefen Menschen herum, handelten, boten ihre Ware an, entluden lautstark Schiffe oder plauderten. Entlang der Kais reihten sich kleine Läden in den unteren Stockwerken der bunten Häuser neben unzähligen Lagerhäusern. Trotz ihrer schmerzenden Füße eilte sie entzückt zu den Schiffen, um sie sich aus der Nähe anzusehen. Wie imposant und riesig sie waren… Sie mussten aus allen Teilen der Erde kommen! In der Fantasie der jungen Frau umgab sie ein Hauch von Fernweh und Ramis hätte sie gerne auf einer ihrer Reisen begleitet. Versunken stand sie vor einem riesigen Ozeankreuzer, als jemand sie antippte. Überrascht sah sie sich einem jungen Matrosen gegenüber, der sie angrinste. Skorbut hatte seine Zähne schon schlecht werden lassen, obwohl er nicht viel älter als zwanzig sein konnte.
"He, Kleine, du wartest wohl auf mich. Kommt mir grad recht. Wie viel willst'e?"
"Was?"
"Na, bist du schwer von Begriff? Was verlangst du für 'nen schnellen Abgang in der Gasse?"
"Ich verstehe nicht." Ramis war sehr verwirrt.
Zudem sprach der Mann ziemlich undeutlich und einen ungewohnten Akzent. Der Matrose hielt ungeduldig eine Münze hoch.
"Das da, das willst du doch für deinen süßen Arsch, oder?"
Ramis stieß entsetzt die Luft aus. Ihr Gesicht lief rot an.
"Wie..."
Weiter kam sie nicht. Auf dem Absatz wirbelte sie herum und rannte davon. Der Vorfall wühlte sie zutiefst auf. Man hatte sie für eine von den käuflichen Frauen gehalten! Abscheu überflutete sie wie eine Welle, auch vor sich selbst. Sie war so tief gesunken, dass jeder es ihr ansah. Auf die Idee, dass ihre Kleider auch nicht mehr sehr respektabel aussahen und von der Reise zerschlissen und man sie deshalb für wenig ehrbar hielt, kam sie gar nicht. Irgendwie nahm sie an, dass jeder ihre Schande sehen konnte und über sie Bescheid wusste. Jetzt hielt sie sich vom Hafen fern und verirrte sich prompt in den Gassen.
Schließlich lehnte sie sich an eine Mauer und kramte in ihrem Beutel, in der Hoffnung dort eine übersehene Münze zu finden. Sie fand sogar noch ein paar, doch es würde nicht einmal für eine Übernachtung ausreichen. Schwarze Verzweiflung überkam sie. Ihr Proviant war längst aufgezehrt und Hunger nagte an ihr. Sollte sie wie die armseligen Kreaturen in London auf der Straße in den Müllhaufen herumwühlen, auf der Suche nach Essensresten? Diese fremde Stadt verwirrte sie immer mehr. Die Häuser verbreiteten eine völlig andere Atmosphäre, es gab viele Hafenkneipen und Lagerhäuser. Alles schien hier auf den Handel und die Schifffahrt ausgerichtet. Trotzdem, das Meer fehlte. Ramis fühlte sich betrogen, der Geruch war von weiter weg gekommen.
In ihre Gedanken versunken, war sie einen Moment nicht vorsichtig und das wurde sofort ausgenutzt. In London war sie nie ausgeraubt worden, sie hatte nie irgendwelche Wertsachen bei sich gehabt. Das hatte sie
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