Dunkle Häfen - Band 1
passiert? Wieso hast du Maple House verlassen?"
Diese Frage hatte sie schon befürchtet. Sie konnte unmöglich von den Ereignissen dort berichten. Außerdem würde Lettice sie nicht verstehen. Lettice hatte sich bereitwillig mit Sir Edward eingelassen. Sie musste verrückt sein.
"Muss das jetzt sein? Ich bin wirklich zum Umfallen müde."
Lettice sah beleidigt aus. Zum Glück blieb Ramis weiteres Nachbohren erspart, denn sie erreichten den Goldenen Drachen. Das Haus war eines wie viele in Bristol, aus rotem Stein erbaut und schon recht verwittert. Es stand nahe am Hafen, zwischen Spelunken und Gasthäusern. Auf der Straße lungerten viele Matrosen herum, die sich nach einer langen Seereise amüsieren wollten. Einige sahen auf, als sie vorbeigingen und pfiffen ihnen nach. Ramis wurde rot und eilte hinter Lettice her. Edward war wieder verlorengegangen, irgendwo auf dem Weg hatte er sich aus dem Staub gemacht. Lettice schob Ramis in das Haus mit dem Schild, auf dem Zum Goldenen Drachen stand und ein kläglich missratener Drache abgebildet war.
Drinnen roch es nach Parfüm. Aus einer geschlossenen Tür hörte Ramis laute Stimmen und Gelächter.
"Das ist unser Salon ", flüsterte Lettice ihr zu.
Ramis hatte ein höchst ungutes Gefühl bei der ganzen Sache. Über eine unauffällige Holztreppe erreichten sie das Obergeschoss.
"Man darf uns nicht sehen. Sei also leise. Madame hat ein verdammt gutes Gehör."
Ramis schloss daraus, dass diese Madame die Besitzerin des Bordells war. Anscheinend eine Frau, vor der man sich in Acht nehmen sollte. Ramis hätte Lettice gern danach gefragt.
Lettice deutete auf eine Tür von vielen anderen, die auf dieser Etage nebeneinander lagen.
"Meine ", erklärte sie.
Ramis versuchte sie sich zu merken, aber sie verlor sofort wieder den Überblick. Anschließend führte Lettice sie noch ein Stockwerk höher. Die schmale Treppe, auf der man sicher leicht ausrutschte, führte auf den Dachboden. Lettice öffnete eine knarrende Tür und ließ Ramis eintreten. Offe nsichtlich war der Raum eine Gerümpelkammer. Viele Kisten und abgewetzte Möbel standen überall im Zimmer, eine dicke Staubschicht bedeckte sie. Es roch auch nach Staub.
"Das ist die Abstellkammer. Hier wirst du vorerst bleiben können, keiner kommt öfter als einmal im Jahr hoch."
Ramis ging umher und sah sich um. Ihr fiel auf, dass auf dem Boden viele freie Flächen waren, auf denen der Staub fehlte. Außerdem lagen auf einem improvisierten Bettgestell Decken, die nicht aufgeschüttelt waren.
"Wer wohnt hier?" , erkundigte sie sich nervös.
"Edward. Du wirst dich wohl oder übel mit ihm abfinden müssen. Leider kann ich nicht sagen, es wird schon klappen, denn er ist ein ungezogener Junge."
Großartige Aussichten, dachte Ramis. Es beunruhigte sie, das Zimmer mit einem Fremden zu teilen zu müssen, erst recht mit einem so schrecklichen Kind, das zudem noch Sir Edwards Sohn war.
"Ich muss jetzt gehen ", verkündete Lettice. "Sicher vermisst man mich schon. Später bringe ich dir ein paar weitere Decken hoch."
Sie eilte nach unten, ehe Ramis sie davon abhalten konnte. Ramis wollte gar nicht erst daran denken, was unter ihr jetzt vorgehen mochte. Sehnsüchtig betrachtete sie das Bett, aber es gehörte Edward und sie war zu Höflichkeit erzogen worden. So würde sie warten, bis Lettice ihr die Decken brachte und legte sich stattdessen auf den Boden. Trotz ihrer Müdigkeit konnte sie lange nicht einschlafen. Zu viel ging ihr im Kopf herum und sie fürchtete sich vor dem fremden Haus.
Sie machte sich auch Gedanken wegen Lettice. Eigentlich kannte sie sie überhaupt nicht und wer sagte, dass man es gut mit ihr meinte? Selbst in Maple House hatten sie kaum mehr als ein paar Sätze geredet, Ramis wusste so gut wie gar nichts von ihr. Sie war sich auch nicht sicher, warum jemand ihr helfen sollte, wenn sie nichts dafür geben konnte. Als sie weg döste, war es ein Schlaf voller fiebriger Alpträume und störender Geräusche.
Als es endlich Morgen wurde, war sie müde und hatte verquollene Augen. Doch damit nicht genug, sie erschrak heftig, als sie den Jungen vor sich sitzen sah, der sich dort wohl schon eine Weile befand und sie frech anstarrte. Ramis Schultern schmerzten, als sie sich aufsetzte.
"Das ist mein Zimmer ", teilte er ihr mit.
"Vielen Dank, aber das weiß ich schon. Allerdings hat mein Beutel auch mir gehört."
Der Junge spuckte auf den Boden. Er hatte wirklich keine Manieren.
"Da war eh nichts Wertvolles
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