Dunkle Häfen - Band 1
dort viel Geld verdienen. Am Hafen liegen immer die großen Schiffe und ich sehe oft, wie sie die ganzen Waren ausladen. Ich weiß auch, dass sie oft Sklaven dabei haben. Die sind ganz schwarz und mehr wie Tiere. Sie werden nach Amerika gebracht. Mit ihnen kann man reich werden."
Ramis konnte ihm nicht in die Kinderaugen blicken.
"Edward, man darf einen Menschen nicht zum Sklaven machen. Keiner hat das Recht, einen anderen zu besitzen." Schmerzlich berührt schloss sie die Augen.
Aber Edward hielt sich damit nicht lange auf.
"Ich habe es satt, arm zu sein. Mutter verdient nicht genug und ich muss klauen." Er kaute wütend auf seiner Lippe herum und warf ihr einen Blick zu. "Das ist nicht einfach und immer kommen mir die anderen Straßenjungen in die Quere. Ich habe oft Hunger, weil ich mir mein Essen selbst besorgen muss, obwohl Mutter mir das Zeug wieder wegnimmt, was ich klaue."
"Habt ihr nicht genug Geld zum Leben?"
Edward schüttelte den Kopf.
"Dann weiß ich aber nicht, ob ich bei euch bleiben kann. Ich habe nämlich auch nichts mehr."
Dieser sehr realistische Gedanke erschreckte sie. Sie wollte nicht wieder auf die Straße zurück. Doch Lettice würde sicher nicht für sie sorgen können und wollen.
"Ich will nicht, dass du gehst ", schimpfte Edward. "Dann bekommt Mutter keinen Penny mehr von mir!"
Ramis stand mit einem leisen Seufzen auf.
"Ach ja, ich soll dir von Mutter ausrichten, dass sie nicht so bald kommen kann. Sie hat viel zu tun."
Der Hohn in der Stimme des Kindes war so unüberhörbar, dass Ramis sich fragen musste, ob es seine Mutter nicht ausstehen konnte. Ramis wandte sich ab und setzte sich auf ihr Lager. Angespannt erwartete sie Lettice Rückkehr.
Edward beobachtete sie eine Weile, begann irgendwann aber, sich in ein Spiel zwischen den Kisten zu vertiefen.
Die junge Frau starrte derweil Löcher in die Luft. Es irritierte sie, dieses Kind um sich herum zu haben, das sie unwillkürlich in die Rolle des Erwachsenen drängte, eine Rolle, die sie nicht beherrschte. Vor kurzem war sie selbst noch die zu Versorgende gewesen. Tief in Gedanken versunken vergaß ihre Umwelt. Sie gab sich ihrer Trauer um das Vergangene hin, dem Verlust ihrer Freunde.
So fand sie Lettice vor, als sie das Zimmer betrat. Zuerst wunderte diese sich, dass ihr Sohn so ruhig war und trotz Ramis Anwesenheit spielte. Sie wusste ja, wie er sich sonst aufführte, wenn er in Gesellschaft eines Menschen war. Und als sie Ramis betrachtete, lief ihr ein Schauder über den Rücken. Und wenn die Neue nun doch eine Verrückte war? Sie hatte das Mädchen damals nur sehr k urze Zeit gekannt und keiner in Maple House wusste etwas von ihr. Das einzige Mal, dass Lettice sich mit ihr beschäftigt hatte, war, als sie die Bibliothek putzen sollten. Sie war eifersüchtig geworden, dass Sir Edward Ramis so viel Aufmerksamkeit schenkte. Trotzdem hatte sie gerade Ramis die rosa Schlafmütze geschenkt, aus einem Impuls heraus. Das musste einen verborgenen Sinn haben, denn hatte nicht eben diese Mütze sie hierher geführt? Lettice musterte die merkwürdigen Augen der jungen Frau. Einerseits waren sie die einer alten Frau und gleichzeitig immer noch die eines kleinen Kindes. Irgendeine Tragödie musste ihr widerfahren sein. Ramis war bereits damals so zurückgezogen gewesen, dass man sie kaum bemerkte, aber jetzt schien sie eine Mauer aus Schweigen zu umgeben. Lettice wollte nun endlich wissen, was passiert war. Seit sie Ramis begegnet war, brannte sie vor Neugierde und ärgerte sich, weil ständig etwas dazwischenkam. Eilig trat sie ganz ins Zimmer, worauf das Kind und die Frau aufblickten.
"Guten Tag, Lettice", murmelte Ramis und erhob sich.
Ihr fiel auf, dass Lettice jetzt ein einfaches Kleid aus brauner Wolle trug und übernächtigt aussah. Sie verstand nicht, wie man diese Arbeit aushalten konnte. Niemals würde sie selbst wieder die Berührung eines Mannes ertragen können. Noch immer fühlte sie sich schmutzig, obwohl sie sich bestimmt schon tausendmal gewaschen hatte, bis ihre Haut schmerzte und feuerrot wurde. Nichts konnte ihren Körper reinigen. Nervös erwartete sie nun die unvermeidliche Frage von Lettice, vor der sie sich die ganze Zeit fürchtete. Lettice beförderte erst einmal Edward hinaus, der sich mit einigen wüsten Ausdrücken gegen seine Mutter verzog. Lettice rannte hinter ihm her, um ihm eine Ohrfeige zu verpassen, aber er war schon weg. Als Lettice wieder im Zimmer war, zog sie Ramis mit zum Bett und
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