Dunkle Häfen - Band 1
Mädchen und Frauen... Weiter konnte sie nicht denken. Der Eimer fiel laut scheppernd zu Boden. Gedärme und Knorpel verteilten sich zu ihren Füßen. Ramis stand reglos da und starrte den Mann an, der sich überrascht umwandte. Seine Reaktion kam auffallend langsam, sicher war er betrunken. Wie beinahe alle Seemänner hatte er schlechte Zähne und war sehr ungepflegt. Schmieriges, langes Haar hing ihm auf die Schultern. Ramis würgte es.
"Lass sofort den Jungen los!" , kam es tonlos über ihre blutleeren Lippen, die ebenso weiß waren wie ihr Gesicht.
"Hättest de wohl gerne, du kleines Miststück. Aber keine Sorge, für dich habe ich auch noch Zeit!" , lallte er.
Doch er war nicht so benebelt, wie es zuerst den Anschein gehabt hatte. Edward starrte Ramis mit offenem Mund an. Diese Gelegenheit nutzte der Matrose, um ihn zu überwältigen. Ramis riss das Fleischermesser vom Gürtel. Drohend hob sie das es wie ein Säbel.
"Geh sofort weg!" , schrie sie. "Ich warne dich, sonst wird es dir sehr leid tun!"
Der Mann stierte das Messer an, aber er reagierte nicht wie erhofft. Schwungvoll schleuderte er Edward von sich, der in die Ecke flog und leicht benommen liegen blieb. Dann schwankte er auf sie zu.
"So, eine Hure, die kämpfen will!"
Auf einmal lag ein großer Säbel in seiner Hand.
Ramis wusste, sie hatte verloren. Gegen diese Waffe hatte sie keine Chance. Ihr Messer zu werfen, daran dachte sie im Augenblic k nicht, sie hätte wohl auch nicht getroffen. Bevor sie jedoch irgendeine Entscheidung treffen konnte, ging plötzlich alles sehr schnell. Der Mann fixierte konzentriert Ramis, weil ihre Umrisse vor seinen Augen verschwammen. Deshalb bemerkte er den glitschigen Boden vor sich nicht. Er trat auf einen der Knochen und rutschte aus. Wie der Blitz raste er auf einmal auf Ramis zu. Sie schrie entsetzt auf. Ihr Bewusstsein konnte dem Ablauf des Geschehens gar nicht mehr folgen. Der Mann riss die Arme hoch und der Säbel polterte zu Boden. Ramis war nicht mehr fähig, irgendetwas zu tun. Hätte der Säbel sie in diesem Moment getroffen, sie hätte es viel zu spät registriert. Stattdessen traf sie die Wucht des Mannes und warf sie gegen die Wand. Von dem Aufprall blieb ihr erst einmal die Luft weg. Ein schweres Gewicht zog sie nach unten. Der Matrose schien an ihr fest zuhängen. Er brüllte aus vollem Hals und seine Gesichtszüge entgleisten im Todeskampf. Ramis starrte auf ihre Hände herunter, die sich um den Messergriff verkrampft hatten und nun von dem Mann verdeckt wurden. Wild riss sie daran und das Messer löste sich aus dessen Bauch. Der Mann sackte auf den Boden. Er zuckte wild. Dann ein letztes Gurgeln und er lag still.
Als der Krampf sich löste, begannen Ramis Finger so sehr zu zittern, dass das Messer herunterfiel. Ihr Blick hing an dem Mann, dessen Blut sich mit dem am Boden vermischte.
"Er ist tot ", wisperte sie. "Ich habe ihn getötet..." Martha? Schimpf mich nicht. Es musste sein. Er hat es tausendfach verdient.
Edward stürzte zu ihr und packte ihre Hand.
"Tante?" , schrie er ihr ins Ohr.
"Edward..." Verstört zog sie ihn in die Arme.
Er klammerte sich an sie und sie spürte sein Zittern. Ein wütender Aufschrei an der Tür ließ sie beide auffahren. Doch dieses Mal reagierte Ramis sofort. Sie zerrte Edward mit sich und drückte sich an dem neuen Mann vorbei, der mit offenem Mund im Türrahmen stand und den Toten anstierte. Irgendwie sah er ihm ähnlich, aber das war im Moment unwichtig. Blindlings floh Ramis durch die Stadt, Edward hinter sich her schleifend. Schließlich hielt Edward einfach an.
"Tante! Hör endlich auf zu rennen! Wir sind schon Meilen entfernt!"
Durch den plötzlichen Widerstand wurde Ramis aufmerksam und sie stoppte. Außer Atem drehte sie sich zu Edward um. Sie standen in einer Gegend, in der sie noch nie gewesen war.
"Wo sind wir?" , fragte sie verwirrt.
Manch einen hätte es vielleicht erstaunt, dass sie nach einer so großen Stadt wie London sich in so einem 'Nest' nicht zurechtfand. Für Ramis war das allerdings nicht weiter verwunderlich. In der Stadt verlor sie stets den Überblick. Immerhin, Bristol war nach London eine der bevölkerungsreichsten Städte.
"Im Süden natürlich! Das sieht doch jeder!"
"Ich nicht. Wohin sollen wir jetzt nur gehen?" , klagte sie.
Es kam nicht in Frage, in den Goldenen Drachen zurückzukehren.
"Du, hast du den Mann wirklich umgebracht?" , wollte Edward unvermittelt wissen. "Wie war das?"
"Edward! Sei einen Augenblick
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