Dunkle Häfen - Band 1
aufdringlicher und hörbarer als alle anderen. Doch aus der Stimme seines Sohnes klang scheinbar weniger Entsetzen, sondern Genugtuung und Rachsucht.
"Edward, jemand en umzubringen, ist kein Abenteuer. Selbst wenn du gezwungen wirst, es zu tun, so empfinde keine Freude daran. Denn das ist verdammenswert."
So wie du? fragte die zynische Stimme in ihr, die sie nie vergessen ließ, was sie alles falsch gemacht hatte.
Doch wie sollte sie nach so langer Demütigung keine Freude über Sir Edwards Tod verspüren? Dass der Matrose in ihr Messer gerannt war, war nicht einmal beabsichtigt gewesen, auch wenn man darüber diskutieren konnte, ob sie die Absicht dazu gehabt hatte. Jedoch hätte sie alles nur zum Schutz von Edward getan. Sie verstand natürlich auch Edwards Zorn, aber ihr gefiel die Art nicht, wie seine Augen glänzten. Seine Umgebung hatte nicht viel dazu beigetragen, ihm eine edle Gesinnung zu vermitteln. Im Moment war er noch ein Kind, da wirkte es sich nicht so sehr aus. Und bis er erwachsen wurde, würde Ramis ihm beibringen, ein guter Mensch zu werden, trotz ungerechter Welt. Dabei konnte sie selbst noch lernen, was das in Wirklichkeit hieß.
"Er wollte uns Schmerzen zufügen, deshalb musste er sterben. Es geschah zu unserer Verteidigung."
"Das sind nicht die Gesetze der Straße, Tante, auch nicht die der Welt. Würdest du aus Rache töten?"
"Ich weiß nicht ", antwortete Ramis ehrlich. "Kennt man sich denn selbst noch, wenn man in Wut ist? Aber für die, die ich liebe, würde ich alles tun."
"Gehöre ich auch dazu?"
Ramis wuschelte ihm durch das filzige Haar.
"Ja, natürlich. Du bist auch der Einzige, für den ich im Augenblick überhaupt etwas tun kann."
Mit einem Seufzen dachte sie an Martha und ihre beiden anderen Freunde. Jeder Tag vergrößerte den Abstand zwischen ihnen und das schmerzte sehr. Sie hatten sich geschworen, in Gedanken weiter beieinander zu bleiben, doch das war unmöglich. Edward legte seinen Kopf auf ihren Schoß, wie er es gerne tat. Ramis streichelte seinen Kopf.
"Du bist so ruhig, Edward. Es muss dich sehr mitgenommen haben."
Edward schüttelte den Kopf. "Ich bin müde."
"Aber...hat es dich nicht entsetzt?"
Ramis war immer noch ganz zittrig. Ich bin ein elender Schwächling. Und gerade sie sollte die Fürsorge für einen Sechsjährigen übernehmen.
"Wenigstens habe ich mich gewehrt!" , verteidigte er sich. "Das letzte Mal..."
"Was für..." Ramis Hände hielten inne. "Du willst doch nicht sagen, dass man dich schon..."
Edward sah, dass er einen Fehler gemacht hatte. Ramis wurde blass und Tränen schossen ihr in die Augen.
"Es gab Kunden mit Sonderwünschen..." , murmelte er.
Ramis ertrug es nicht mehr.
"Und deine Mutter hat nur zugesehen ?", schrie sie außer sich und fiel fast die Leiter herunter, als sie aufsprang und nach unten stolperte.
Als sie das Freie erreichte, ließ sie sich halb betäubt ins Gras sinken. Sie war zu spät gekommen, um Edward vor dieser ekelhaften Form des Missbrauchs zu schützen. War denn ihr ganzes Tun sinnlos? Und ihr ganzer Kampf, der ihre Kräfte so überstieg, umsonst? Plötzlich überkam sie eine so hilflose Wut, dass sich ihre Finger ins Gras krallten, um sie nicht gegen sich selbst zu richten. Unbeherrscht verfluchte sie Lettice und die ganze restliche Welt, vor allem aber alle Gewalttäter, diese egoistischen Widerlinge. Jetzt hätte sie auch eine Antwort auf Edwards Frage über die Rache geben können. Ja, sie hätte sie alle umbringen können. Und es hätte ihr Genugtuung bereitet. Rasende Wut rauschte brodelnd durch ihre Ohren und zog sie in ihren irren Strudel. Der Drang, einfach alles zu vergessen und sich endgültig dem Wahn zu überlassen, überkam sie. Sie wollte toben und schreien, bis die ganze Wut draußen war. Ihre Hand zerrte das Amulett hervor und sie biss mit aller Kraft darauf. Ihre Zähne schmerzten auf dem Metall, aber es half. Ihr Zorn schien durch das Amulett zu schwinden und ihr Atem wurde allmählich ruhiger. Jetzt nicht daran denken, ermahnte sie sich streng, nicht daran denken.
Schrecklich musste sie aussehen, mit zerzaustem Haar und erdigen Fingernägeln, überall Grashalme. Sie hatte Grund, diesen Teil von sich zu fürchten, dieses Feuer, das sie so leicht unter seine Kontrolle brachte. Wer sollte da nicht wahnsinnig werden?
Im Türrahmen sah sie Edward stehen. Er sah ganz verloren aus.
"Edward!" , rief sie mit schwacher Stimme.
Er kam sofort angerannt und versteckte sein Gesicht in ihrem
Weitere Kostenlose Bücher