Dunkle Häfen - Band 1
gesessen hatte und oft waren Tränen still über ihr Gesicht geronnen. Von Tag zu Tag schien sie weniger zu werden. Wen ihr Selbstmord erstaunt hatte, der musste blind gewesen sein. Ramis hatte die Frau verstanden, aber sie hatte nie gewagt, sie anzusprechen. Sie war selbst viel zu sehr in ihrem ganz ähnlichen Kokon eingesponnen, um auf ihre Umgebung zuzugehen. Jetzt regten sich in ihr Selbstvorwürfe, denn sie kannte ihrerseits die tiefsitzende Sehnsucht nach Anteilnahme und Zuwendung. Das führte dazu, dass sie sich nur noch mehr zu verabscheuen begann, denn es zeigte ihr, wie ähnlich sie den Menschen war, die sie so verachtete. Auch sie hüllte sich in die Gleichgültigkeit, die so vielen Schutz bot.
Ansonsten traf Ramis jedoch auch auf echte Kampfbereitschaft. Von einer anderen Frau erfuhr sie, dass diese ihre kranken Eltern und zwei Kinder versorgen musste und das Verkaufen ihres Körpers der einzige Weg gewesen war. Trotzdem blieb sie eine fröhliche Frau und widmete sich ihren Pflichten voller Hingabe. Sie sagte, es käme für sie nie in Frage, ihrer Familie die Unterstützung zu versagen. Von der Gesellschaft allerdings sprach auch sie voller Zorn und Bitterkeit. Sie alle kannten die Gewalt und die Demütigung, die ihnen täglich zugefügt wurde. Für sie gab es keinen Platz in der Gesellschaft. Niemand kümmerte es, wie eine Prostituierte behandelt wurde, denn es war kein anerkannter Beruf. Die oberen Schichten wollten nichts mit ihnen zu tun haben, wenn sie in der Öffentlichkeit standen. Nur in der Dunkelheit der Nacht kamen viele ihrer Männer und suchten niedrige Vergnügungen, die sie anscheinend in ihrer Welt nicht finden konnten. Die Frauen wussten, dass sie allgemein beschimpft und herabgesetzt wurden, als seien sie die Schuldigen. Es gab viele Ausdrücke für sie, doch nur wenige für die Kunden, die zu ihnen kamen. Ramis lernte zum ersten Mal das Leben von dieser Seite kennen. Nun verstand sie Marthas Verteidigung dieser Frauen. Aber trotz all dieses Mitleidens fürchtete sie sich schrecklich davor, zu ihnen dazugerechnet zu werden. Nach Möglichk eit distanzierte Ramis sich – und das blieb den anderen nicht verborgen. So benahmen sie sich Ramis gegenüber einmal ganz freundlich und dann wieder stießen sie sich von sich und behandelten sie mit eisiger Abweisung. Manchmal schnitten sie sie auch, wenn sie zu Tische saßen, und taten, als gäbe es Ramis nicht. Hätte sie nicht schon eine dicke Schale gegenüber solchem Verhalten gehabt, es hätte sie sicher sehr verletzt. Ab und zu überkam die junge Frau aber auch tiefes Mitleid, denn es gab wohl keine der Frauen, die nicht irgendeine Geschlechtskrankheit hatte, die sie das Leben kosten würde, wenn sie nicht schon vorher starben. Manche hatten hässliche Ekzeme und wunde Stellen, die nicht verheilten.
Wenn man sie fragte, wie sie ihr Leben ertrugen, sagten sie:
"Man macht eben immer weiter. Es gibt immer ein Morgen. Denke nur nie darüber nach, denn das wäre zu schmerzhaft."
Der Fluch
Auf die Weise verging ein weiteres Jahr in Ramis Leben und sie kam gerade so über die Runden. Man schrieb nun das Jahr 1699. Mit Mühe und Not entrichtete sie jeden Monat Madames Geld und sparte verbleibende Münzen für die nächste Zahlung, wenn die Zeiten dürftiger waren. Oft half sie auch Liam beim Verkaufen der Stoffe, wenn sie gerade keinen Kunden hatte, das brachte ihr manchmal mehr Geld ein. Sie musste jetzt um die sechzehn oder siebzehn sein und war längst eine Frau. Da sie regelmäßige Mahlzeiten bekam, war sie rundlicher geworden. Ihre weiblichen Formen hatten sich ausgeprägt und die fehlende Zeit aufgrund ihrer langen Unterernährung wieder eingeholt. Sie sah nun aus wie jede andere junge Frau, die ausreichend zu Essen bekam, doch ein Vergleich fiel schwer, da Ramis freiwillig in Sack und Asche herumlief. Sie hatte einfache Kleidung stets als eine Art Schutz betrachtet und inzwischen war es ihr zur Gewohnheit geworden. Selten sehnte sie sich danach, sich selbst einmal in prächtigen Kleidern und glitzernden Schmuck zu sehen, wie es die Reichen taten. Einst, vor mehreren Jahren hatte sie vor dem Spiegel gestanden und sich über ihr fremdes Aussehen gewundert, doch damals hatte es sie nicht erfreut.
Manchmal stand sie neben dem Nordportal der alten gotischen Kirche Mary St. Redcliffe und beobachtete die Hochzeitsgesellschaften, wenn sie ein- und ausgingen. Auch sonntags wartete sie häufig dort und schaute den Kirchengängern zu, ohne
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