Dunkle Häfen - Band 1
jedoch selbst die Kirche zu betreten. Viele hielten sie für eine Bettlerin und wollten sie verscheuchen. Doch sie kam immer wieder, um die Brautpaare zu sehen. In ihrem Alter sollte eine Frau nach gängigen Maßstäben bereits verheiratet sein, aber für Ramis war das nicht einmal eine Erwägung wert. Der Gedanke, zu heiraten, war in Bezug auf sie einfach lächerlich. Außerdem, wie konnte jemand freiwillig heiraten wollen? Das Leben war auch so schon schwer genug. Noch immer schien es nur ums Überleben zu gehen, vor allem um das psychische.
Dennoch blieb daneben die Zeit, Edwards wilder Mähne einen Haarschnitt zu verpassen, was diesem Protestgeschrei entlockte, und seine und ihre eigene Garderobe ständig zu stopfen. Schließlich reichte es ihr und sie kratzte ihr Erspartes zusammen, um ihnen neue Kleidung zu kaufen. Damit schauten sie beide viel respektabler aus, wobei Edward sie nur selten trug, weil man sie ihm in der Gosse sofort gestohlen hätte. Weiterhin flickte sie die Kleider der Frauen wieder zusammen und half im Haus aus, wenn sie nichts zu tun hatte. Diese Arbeit war zwar wesentlich angenehmer als in Maple House und sie musste auch keine Botengänge bei jedem Wetter mehr machen, aber Ramis war trotzdem jeden Abend sehr müde.
Im selben Jahr - 1699 - geschah wieder etwas, was Ramis sehr verstörte. Sie half gerade in der Küche aus, denn es regnete in Strömen und deshalb fand kein Markt statt. An jenem Tag hatte man einen ganzen Ochsen aus dem Schlachthaus gebracht und jetzt waren alle damit beschäftigt, das Fleisch weiterzuverarbeiten. Ramis stieß diese Arbeit ab. Als ob sie nicht schon genug Blut gesehen hatte... Aber als die Dienstmagd, die sie sein musste, durfte man keine Schmutzarbeit scheuen. Eine solche durfte sich einfach nicht ekeln. Ramis hatte die Aufgabe bekommen, die Schlachtabfälle nach draußen zu tragen. Achtlos hängte sie sich das schmierige Messer, mit dem sie kurz zuvor das Fleisch geschnitten hatte, an den Gürtel ihrer Schürze. Der Schlachter schaufelte ihr die Knochen und Innereien in einen Holzkübel. Im Hinterhof würden schon die halbwilden Hunde auf sie warten und sich über den Leckerbissen freuen. Es beglückte auch Ramis zu sehen, wie sie sich heißhungrig darauf stürzten. Die mageren Leiber der Hunde schmerzten sie immer, denn sie wusste nur zu gut, wie es war, zu hungern.
Im Erdgeschoss waren die 'Gaststube' und einige kleine Lagerräume und Abstellkammern, sowie die Küche. Die Vorräte wurden größtenteils im Keller gelagert, weil es dort auch im Sommer kühl blieb. Ramis hob den Kübel hoch und legte sich noch eine Kette überflüssigen Knoblauchs um den Hals, die nach unten gebracht werden musste. Sie räumte zuerst den Knoblauch auf und hängte ihn an der Decke der Vorratskammer auf.
Als Ramis sich anschließend auf den Rückweg machte, stutzte sie auf halbem Weg. Aus einem der Räume kamen Geräusche, da war sie sich vollkommen sicher. Ob das wieder die Ratten waren? Aber selbst Ratten machten nicht so einen Lärm, dass man sie noch auf dem Gang hörte. Sie konnte sich jedoch nicht vorstellen, wer dort etwas zu schaffen haben sollte, denn in diesem Raum wurde nur das Brennholz für den Winter aufbewahrt. Vielleicht stahl ja wieder einer der Angestellten ein paar Scheite, um es sich gemütlicher zu machen? Madame würde einen Wutanfall bekommen, wenn sie merkte, dass jemand Holz entwendet hatte. Sie hatte das unter Androhung fürchterlicher Strafen strengstens verboten. Holz war teuer. Da Ramis im Grunde genommen neugierig war, beschloss sie, nachzusehen. Am Ende würde man noch sie selbst des Diebstahls bezichtigen, wie sie es in Maple House gern getan hatten. So war es besser, zu wissen, wer es gewesen war. Lautlos öffnete sie die Tür. Holzfasern bohrten sich in ihre Hand, als sie hineinspähte. In diesem Augenblick vernahm sie eine Kinderstimme von drinnen. Sie klang eigenartig schrill. Edward, schoss es ihr eisig durch den Kopf. Eine andere, tiefere erklang, ähnlich einem Knurren.
"Jetzt halt endlich still!"
Ramis stieß die schwere Tür auf. Was sie sah, ließ ihr das Blut gefrieren, so sehr schockte es sie. Die düsteren Erinnerungen jagten ihr durch Mark und Bein. Bei den hohen Holzstapeln stand ein Mann mit heruntergelassener Hose und versuchte, den tobenden Edward zu bändigen. Es war so offensichtlich, was er vorhatte und das war so ungeheuerlich, dass Ramis ihre Fassung nicht wiederfinden konnte. Sie hätte nie gedacht, dass nicht nur
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