Dunkle Herzen
schüttelte sie diesen Gedanken ab und konzentrierte sich auf das, was vor ihr lag. Unglücklicherweise hatte Gladys erst gegen Mittag angerufen, und als Clare endlich eingefallen war, wieso ihr dieses Angebot gemacht wurde, hatte sie sich in Windeseile in Schale werfen müssen.
Ob der kurze dunkelblaue Rock und die Jacke im Marinestil nun allerdings das passende Outfit für eine Versammlung des Frauenvereins darstellten, dessen war sie sich nicht sicher, aber sie hatte ihr Bestes getan. Während sie mit den Ellbogen den Wagen lenkte, befestigte sie rasch noch ein Paar große Reifen an ihren Ohren.
Als sie den Übertragungswagen des Hagerstowner Fernsehsenders erblickte, stöhnte sie innerlich, parkte direkt dahinter und legte die Stirn gegen das Lenkrad.
Sie haßte öffentliche Auftritte, haßte Interviews, und ganz besonders haßte sie auf sie gerichtete Kameras. Ihre Hände fühlten sich jetzt schon feucht und klamm an, und sie war noch nicht einmal ausgestiegen.
Eines der letzten Dinge, die sie in New York zu erledigen hatte, war der Auftritt vor Tina Yongers’ Club gewesen. Die Kunstkritikerin hatte sie geschickt unter Druck gesetzt, genau wie Min jetzt, und Clare hatte nachgegeben, wie immer.
Kein Rückgrat. Kein Mumm in den Knochen. Du Feigling! Du Niete! Clare betrachtete ihr Gesicht im Innenspiegel. Na großartig. Jetzt hatte sie auch noch ihre Wimperntusche verschmiert. In Ermangelung besserer Mittel wischte sie den Fleck mit Spucke fort.
»Du bist eine erwachsene Frau«, hielt sie sich selber vor.
»Du bist volljährig und stehst auf eigenen Beinen. Du wirst das jetzt durchstehen, und nein, dir wird nicht schlecht werden.«
Das Trauma ging tief, und sie wußte es. Die Furcht, die Panik, alles war auf die Wochen nach dem Tod ihres Vaters zurückzuführen. All diese Fragen, all die neugierig auf sie gerichteten Augenpaare. All die Kameras bei der Beerdigung.
Doch sie lebte heute und jetzt. Beweg deine weichen Knie und deinen rebellierenden Magen aus dem Auto, befahl sie sich. Diese Rede würde sie jedenfalls von dem Diebstahl ablenken – und der zu erwartenden unerfreulichen Frage seitens Cam, warum zum Teufel sie schon wieder nicht die Garage abgeschlossen hatte.
Als sie ausstieg, fiel ihr Blick als erstes auf den Negerjungen, und unwillkürlich kicherte sie nervös, als sie zum Haus ging.
Dann sah sie die Löwen und blieb wie angewurzelt stehen. Die Treppe wurde von zwei weißen Gipslöwen, die straßbesetzte Halsbänder trugen, flankiert.
»Sorry, Jungs«, murmelte sie und grinste schon wieder, als sie an die Tür klopfte.
Während sich Clare mit dem Frauenverein abplagte, saß Joleen Butts auf einem Klappstuhl in der Turnhalle der High School. Die Eröffnungsansprache dauerte ewig, und einige Leute rutschten bereits unruhig auf ihren Sitzen herum, doch Joleen saß stocksteif da. Tränen schimmerten in ihren Augen.
Sie wußte nicht recht, warum sie eigentlich weinte. Vielleicht, weil ihr Sohn einen so gewaltigen Schritt in Richtung des Erwachsenenlebens getan hatte oder weil er seinem Vater in diesem Moment so ähnlich sah. Oder weil sie tief in ihrem Herzen wußte, daß sie ihn bereits verloren hatte.
Sie hatte Will nichts von der Auseinandersetzung gesagt. Wie könnte sie auch! Hier saß er neben ihr, seine Augen leuchteten, und sein Gesicht strahlte vor Stolz. Sie hatte
auch nicht erwähnt, daß sie, nachdem Ernie türenknallend aus dem Haus gestürmt war, dessen Zimmer nach Drogen durchsucht hatte. Fast hatte sie gehofft, sie würde etwas finden, dann hätte sie wenigstens eine plausible Erklärung, einen greifbaren Beweis für seine Stimmungsschwankungen gehabt.
Doch das, was sie dann dort gefunden hatte, jagte ihr mehr Angst ein als Drogen.
Die Bücher, die Broschüren, die schwarzen Kerzenstummel. Das Notizbuch voller Zeichnungen seltsamer Symbole und fremder Namen, das gehäufte Auftauchen der Zahl 666. Und dann das Tagebuch, in dem die Rituale, die er zelebriert hatte, minutiös festgehalten worden waren. In diesem Raum hatte er es getan, während sie schlief. Sie hatte das Tagebuch rasch zugeklappt, unfähig, noch weiterzulesen.
Seit jenem Tag hatte sie kaum noch ein Auge zugetan und sich wieder und wieder gefragt, wie sie nur den Mut aufbringen sollte, ihn zur Rede zu stellen. Und nun, als die Namen der Abschlußklasse aufgerufen wurden, als die jungen Männer und Frauen im Gänsemarsch zur Bühne gingen, beobachtete sie ihren Sohn.
»Ernest William Butts.«
Will hielt
Weitere Kostenlose Bücher