Dunkle Herzen
Sie schloß die Augen und dachte kummervoll an dessen Mutter.
Aber für Ernie gab es noch eine Chance. Er hatte Angst, und Angst war eine starke Triebfeder. Vielleicht, nur vielleicht konnte sie ihn dazu bewegen, ihr zu helfen.
Ob sie Mick getötet hatte? Hoffentlich! Bitterer, giftiger Haß würgte sie in der Kehle und half ihr, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Ja, sie betete zu Gott, daß sie ihn umgebracht hatte. Wie wollte Atherton wohl den mysteriösen Tod des Deputys erklären?
Die Tränen waren versiegt, und gottseidank war auch die Panik abgeflaut. Vorsichtig drehte Clare den Kopf zur Seite und musterte ihre Umgebung.
Es gab einen Tisch und vier Stühle. Auf dem Boden lagen Zigarettenstummel verstreut. Clare nahm an, sie würde sich besser fühlen, wenn es ihr gelänge, an einem davon noch einmal zu ziehen.
Ein ekelhafter Gedanke, zugegeben, aber unter diesen Umständen durchaus normal, fand sie.
Wie zum Teufel kam sie bloß hier raus?
Sie drehte sich, soweit die Fesseln es ihr erlaubten, zur Seite, wobei sie vor Schmerz scharf den Atem einsog. Diese Schweine hatten ihr noch nicht einmal genug Bewegungsfreiheit gelassen, um sich aufzusetzen. Ihre Handgelenke waren so wundgescheuert, daß sie bluteten. Außerdem verspürte sie ein dringendes menschliches Bedürfnis.
Beinahe wäre sie in ein schrilles, hysterisches Gelächter ausgebrochen, doch sie zwang sich mit aller Kraft dazu, still liegenzubleiben und sich darauf zu konzentrieren,
ruhig und gleichmäßig zu atmen, bis der Anfall vorbei war.
Ein Motorengeräusch von draußen brachte ihre mühsam zurückgewonnene Selbstkontrolle zum Erliegen, und sie schrie gellend um Hilfe, als sich die Tür öffnete und Dr. Crampton eintrat.
»Du wirst dich nur selbst verletzen, Clare.« Er hielt die Tür mit einem Stein offen, so daß Sonnenlicht und frische Luft in die Hütte dringen konnten. Clare blinzelte. In der einen Hand hielt er seine Arzttasche, in der anderen eine Papiertüte mit Aufdruck von McDonald’s. »Ich habe dir etwas zu essen mitgebracht.«
»Wie können Sie nur so etwas tun? Dr. Crampton, Sie kennen mich seit meiner Geburt. Alice und ich sind zusammen aufgewachsen. Wissen Sie eigentlich, was Sie Ihrer Tochter antun? Welchen Schock es ihr versetzen wird, wenn sie herausfindet, was Sie getan haben? Was Sie sind?«
»Meine Familie geht nur mich etwas an.« Crampton legte Tasche und Tüte auf einen Stuhl und schob diesen zum Bett hin. Diesen Teil seiner Aufgabe haßte und verabscheute er von ganzem Herzen, und wenn er Atherton erst einmal die Macht abgerungen hatte, würde er dafür sorgen, daß sich die Gruppe wieder auf ihre ursprünglichen Ziele besann. Fehler dieser Art würde es keine mehr geben. »Du hast dir ja die Haut aufgeschürft.« Mißbilligend schnalzte er mit der Zunge, während er ihre Handgelenke untersuchte. »Möchtest du dir unbedingt eine Entzündung holen?«
Clare konnte nicht anders, sie mußte freudlos auflachen. »Ist es Ihre Gewohnheit, Ihren Opfern Hausbesuche abzustatten? Um uns am Leben zu erhalten, bis Sie Verwendung für uns haben? Sie sind ein wahrer Menschenfreund, Doc.«
»Ich bin Arzt«, erwiderte Crampton steif.
»Sie sind ein Mörder!«
Der Doktor stellte seine Tasche und die Lunchtüte auf den Boden und setzte sich. »Meine religiösen Überzeugungen beeinträchtigen mein Berufsleben nicht im geringsten.«
»Ihr sogenannter Glaube hat mit Religion nichts zu tun.
Sie sind ein sadistischer Psychopath, der hilflose Menschen vergewaltigt und tötet und das auch noch genießt.«
»Ich erwarte nicht, daß du mich verstehst.« Mit dem Geschick langjähriger Erfahrung öffnete Crampton seine Tasche und entnahm ihr eine frische Injektionsspritze. »Wenn ich ein Mörder wäre, dann würde ich dich hier und jetzt mit einer Überdosis töten.« Seine Augen blickten immer noch geduldig, ja, sogar freundlich auf sie herunter. »Du weißt, daß ich dazu niemals fähig wäre.«
»Ich weiß überhaupt nichts von Ihnen.«
»Ich bin derselbe Mensch wie früher.« Mit einem Stück Zellstoff desinfizierte er die Wunden. »Nur habe ich mich, wie die anderen auch, neuen Wegen geöffnet und dem sogenannten christlichen Glauben, der auf Heuchelei und Selbstverleugnung basiert, abgeschworen.« Er schob seine Brille auf die Nase, hielt die Spritze hoch und drückte versuchsweise ein Tröpfchen des Betäubungsmittels heraus.
»Bitte nicht.« Clares Augen konzentrierten sich auf die Spritze. »Bitte tun Sie das
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