Dunkle Materie
Wüste sah, mit einer Wodkaflasche in
>der Hand, wie wir uns Geschichten erzählten, du über Sa-
>scha und ich über Tanja, und es hat nie geregnet. Bis zu je-
>nem erstaunlichen Moment, in dem wir entdeckten, dass
>sich unsere Geschichten überlappten. Dass wir die gleiche
>Geschichte erzählen. Gerade da fing es an zu regnen. Der
>erste Regen.
>
>Ich erinnere mich, dass ich dachte, es gibt zu viele Ãberein-
>stimmungen. Es ist kaum zu glauben, was hier geschieht.
>Wie kann es sein, dass ich einen Monat nach der Trennung
>von Tanja auf einen anderen Kontinent fliege, ein Auto mie-
>te, eine Frau auf der StraÃe nach Gilo verletze, und diese
>Frau und Tanja einen gemeinsamen Liebhaber gehabt ha-
>ben, Sascha, über den ich von Tanja schon so viel gehört hat-
>te, und jetzt sprichst du über ihn.
>
>Ist es mein Schicksal, Geschichten über Sascha zu hören?
>Mich in Frauen zu verlieben, die er verlassen hat? Wie
>kommt es, dass ich und Sascha uns in die gleichen Frauen
>verlieben? Gibt es noch andere Gemeinsamkeiten? Ist Sa-
>scha mein Doppelgänger? Gibt es so etwas überhaupt, Dop-
>pelgänger? Und wie kann es sein, dass es anfängt zu regnen,
>wenn wir das alles entdecken, der erste Regen?
>
>Ich erinnere mich, dass mir all diese Gedanken auf ein-
>mal kamen, zu schnell, zu sehr ineinander verschlungen
>und nicht voneinander zu trennen, und dazu die schweren
>duftenden Regentropfen, und unsere Bekleidung, die fast
>durchsichtig wurde. Ich erinnere mich an deine Tränen. Du
>warst noch stärker geschockt als ich. Du weintest und sag-
>test, das darf nicht wahr sein, das darf nicht wahr sein. Das
>war das erste Mal, dass ich dich weinen sah. Ich erinnere
>mich, dass ich versuchte, dich zu beruhigen, dich in den
>Arm zu nehmen. Aber du hast dich nicht beruhigen lassen.
>Du hast dich aus meinen Armen befreit. Du hast geschrien,
>das darf nicht wahr sein, das darf nicht wahr sein.
>
>Es regnet jetzt in New York, es ist aber nicht der erste Re-
>gen. Es riecht auch nicht wie nach dem ersten Regen. Denn
>in New York gibt es keinen ersten Regen. Hier regnet es das
>ganze Jahr über. Danach sehne ich mich, seit ich hier bin,
>nach dem ersten Regen. Und trotzdem kann man ein Fens-
>ter aufmachen und den blauen Regen riechen. Und die glän-
>zenden Autos sehen, wie sie langsam durch die Second Ave-
>nue schwimmen. Und man kann weich sein. Ich wünschte,
>ich wäre sogar noch weicher. Ich wünschte, ich könnte jetzt
>deine Weichheit spüren. Ich wünschte, ich könnte jetzt in
>deinem Körper versinken.
>
>Adam
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Samstag, 30. Oktober, 19:51
Betreff: Herbst
Adam,
ich habe deine Mail gelesen. Das Wort ist nicht genau, ich habe sie eingeatmet. Ich habe sie in mich eingesaugt, in meine Lungen (wir machen so viel im Leben, ohne es wirklich einzusaugen). Das ist in diesen Tagen zu meiner Hauptbeschäftigung geworden, deine Mails zu lesen, dir zu schreiben. Du bist die ganze Zeit hier. Ãberall. Wie durch ein Zauberkunststück.
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Aber meine Finger sind zu langsam. Langsamer als die Worte. Und die Worte sind langsamer als die Gedanken. Und dieser Staffellauf, die Finger hinter den Worten und die Worte hinter den Gedanken, hat etwas Frustrierendes an sich. Es geht so viel verloren.
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Was ich jetzt haben möchte, sind mehr Hände.
Tausend Hände auf tausend Tastaturen.
So etwas wie ein Riesenoktopus.
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Ja, ich liebe es auch, den Regen zu riechen. Und ich liebe den Herbst.
Ich erinnere mich, dass unsere Lehrerin, als ich ein Kind war, uns fragte, welche Jahreszeit wir am liebsten hätten, und warum. Die meisten Kinder wählten den Sommer, wegen der langen Tage (die weiÃen Nächte) oder wegen des Wetters. Andere wählten den Winter (Ski, Schnee) oder den Frühling (Anfang?). Nur ich bevorzugte den Herbst. Und meine Begründung war banal: Im Herbst fing die Schule wieder an, ich liebte es zu lernen.
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Im Herbst kam immer meine GroÃmutter aus Moskau nach Sankt Petersburg und blieb zwei Monate bei uns. Ich liebte es, Pilze zu sammeln. Viel mehr, als sie zu essen. Ich suchte mit meinem Vater um die Wette. Dann gingen wir in die Küche, die voller Dampf war, sortierten die Pilze und schnitten sie in dünne Scheiben. Einmal konnte ich wegen des Dampfes nichts sehen und schnitt mir in den Finger, statt den Pilz zu treffen, und mein Vater lutschte an meinem Finger und
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