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Dunkle Materie

Dunkle Materie

Titel: Dunkle Materie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aner Shalev
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sagte, das ist aber ein leckerer Pilz.
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    Ich erinnere mich jetzt, dass es Dinge in meinem Leben gab, die ich wirklich liebte.
    Â 
    Adam,
es ist nun Abend und ich bin traurig. Du hast Glück, dass ich die meisten Mails tagsüber schreibe, denn die Abende bedeuten eine unendliche Melancholie. Ich erinnere mich an ein Gedicht. Es heißt »Herbsttag« und stammt von Rilke. Ich interessiere mich nicht so sehr für Lyrik, aber dieses Gedicht verfolgte mich an den Abenden, wenn die Tage kürzer wurden und das strahlende Licht des Sommers verschwand.
    Â 
    An jenen Abenden, als ich jung und allein war, setzte ich mich ans Klavier und spielte unendlich lang. Hauptsächlich Chopin. Aber in den traurigsten Augenblicken spielte ich Beethoven, die Mondscheinsonate, immer und immer wieder, und mir schien, als ziehe jemand an meinem Herzen, so wie man versucht, eine Wurzel herauszureißen. Ich erinnere mich jetzt ganz genau daran, weil mein Computer in diesem Moment die Mondscheinsonate spielt. Habe ich dir erzählt, dass mein Computer Musik spielen kann? Ich habe eine CD mit den Sonaten von Beethoven. Sie gehört mir nicht, sie gehört Sascha. Das stimmt nicht ganz, eigentlich habe ich sie Saschaeinmal geschenkt, und als wir uns trennten und ich meine Sachen aus der Wohnung in Niyot abholte, rutschte diese CD irgendwie in meine Tasche und seitdem ist sie bei mir. Das ist der einzige Gegenstand, den ich habe, der Sascha gehört. Und es ist das erste Mal seit der Trennung, dass ich mir die CD anhöre.
    Â 
    Ich schalte sie jetzt aus. Ich kann die Mondscheinsonate nicht mehr hören. Ich kann auch nicht mehr Klavier spielen. Ich habe in Jerusalem kein Klavier. Was für ein Glück, dass in wenigen Minuten Freunde zu uns kommen. Es sind die, die in den Fotoalben blätterten, die, eine Stunde nachdem du weg warst, in unserer Küche saßen, lachten und tranken und Pelmeni aßen. Habe ich dir schon davon erzählt? So vieles habe ich dir noch nicht erzählt. Ich glaube, ich werde ihnen Wein anbieten, keinen Wodka. Unseren Wodka habe ich nicht angerührt. Im Oktober ohne dich Wodka zu trinken kommt mir vor, als würde ich dich betrügen.
    Â 
    Nein, Adam, ich ertrage es nicht. Nur mir selbst zuzuhören und über mich zu sprechen, wie du es vorschlägst. Das ist der Grund, weshalb ich die ganze Zeit zu Menschen fliehe. Glaubst du, dass ich jemals lernen werde, mir zuzuhören, ohne mir die Ohren zuzuhalten und wegzulaufen?
    Â 
    Aber darüber wollte ich nicht schreiben. Ich wollte über das Gedicht von Rilke schreiben. Ich fand das Gedicht das erste Mal in einem Brief, den mir Ilja von Riga nach Sankt Petersburg schickte. Das war noch die Zeit, in der man Liebesbriefe auf Papier schrieb, nicht per Computer, mit elektronischer Post.
    Â 
    Herbsttag
    Â 
    Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
    Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.
    Â 
    Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
    Â 
    Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
    Â 
    Adam, wir beide wissen es, wir werden nie ein Haus haben.
    Wir werden nie an einem Küchentisch zusammensitzen.
    Wir werden noch nicht einmal in derselben Stadt wohnen.
Eva
    Â 
    Â 
    Sonntag, 31. Oktober, 21:55
    Â 
    Adam,
heute bin ich leer. Als hätte mir jemand den Zauber geraubt, seit du weg bist. Wie lange hält der Zauber, den du hinterlässt? Sag mir, dass er länger als zwei Wochen hält.
    Â 
    Ich dachte heute (ich bin mit einer schrecklichen Laune aufgewacht und musste mit Lena zum Innenministerium gehen, um die Termine für die Prüfungen bestätigen zu lassen): Undwenn ich dir heute nicht schreibe? Ein Teufel in mir wollte deine Reaktion prüfen. Aber dann verstand ich, dass ich mich nur selbst quälen würde. Das habe ich auch früher schon gemacht, nicht nur einmal, ich quälte mich selbst, indem ich andere Leute quälte. So habe ich es mit dir gemacht, als du zum ersten Mal mit mir schlafen wolltest. Das war am Tag nach dem ersten Regen. Es hatte die ganze Nacht geblitzt und gedonnert und ich konnte nicht schlafen. Ich wollte dich in

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