Dunkle Schatten (German Edition)
wach geworden, reibt sich die Augen und sieht
ihn fragend an. Kokoschansky legt nur den Zeigefinger an die Lippen als
Zeichen, ruhig zu sein.
»Ja, jetzt.«
»Und wo? Bei dir zu Hause?«
»Nein, es ist so ein schöner Morgen. Gehen wir doch ein bisschen
spazieren«, schlägt Kokoschanskys Exfrau vor.
»Wo soll das sein?«
»Auf der Donauinsel.«
Das verheißt nichts Gutes. Kokoschansky quälen böse Vorahnungen. »Na gut.
Wann?«
»In einer Stunde, um 9 Uhr.«
»Die Donauinsel ist groß. Wo genau?«
»Auf der Reichsbrücke, ein Stück von der U-Bahn-Station stadteinwärts
entfernt, auf dem Fußgängerweg bei der Ausbuchtung, wo man so schön auf die
Donau, den Kahlenberg und Leopoldsberg sieht.«
»Warum ausgerechnet dort?« Kokoschansky traut ihr nicht. Dieser
ungewöhnliche Treffpunkt irritiert ihn. »Wäre es nicht einfacher …?«
»Nein«, schneidet Sonja ihm barsch das Wort ab, und ihre Stimme klingt
merkwürdig, »von dort kann Günther die großen Schiffe besser sehen.« Im
Hintergrund hört Kokoschansky seinen Sohn jubeln.
»Ich werde da sein. Um 9 Uhr.«
»Ich warte. Dann wird es Günther bestimmt sehr gut gehen.«
Aufgelegt …
»Was ist los?«, fragt Lena. »Ist Günther krank?«
»Nein, nein.« Kokoschansky ist völlig durcheinander. »Ihre Stimme war so
eigenartig. Entweder sind das ihre verdammten Tabletten, oder sie hat getrunken
oder beides. Warum dieser komische Treffpunkt? Jetzt ist genau das eingetreten,
was ich immer befürchtet habe. Sie will sich mit Günther umbringen, und ich
soll ihr dabei zusehen. Das ist ihre Rache. Diese Verrückte will sich mit dem
Buben von der Brücke in die Donau stürzen.«
»Wenn wir Sonja mithilfe der Polizei zu Hause abfangen?«, schlägt Lena
vor.
»Sie wird nicht öffnen und wenn sie merkt, dass die Polizei mit im Spiel
ist, dreht sie komplett durch und nimmt Günther als Geisel. Das ist mir viel zu
gefährlich. Ich muss es riskieren.«
»Ich komme mit.«
»Nein«, bestimmt Kokoschansky barsch. Ungewaschen und unrasiert schlüpft
er in seine Klamotten. »Ich weiß, was wir tun. Du setzt mich bei der
Reichsbrücke ab. Dann fährst du über die Brücke und kommst von der anderen
Seite. Du hältst dich aber im Hintergrund. Leider ist es dort total einsehbar,
aber ich werde versuchen, Sonja abzulenken. Hoffentlich spinnt sie nur und hat
nicht das vor, was ich glaube.«
*
Alfred Cench wurde noch in dieser Nacht von Katterka auf unbestimmte Zeit
wegen seines nicht genehmigten Alleinganges beurlaubt, was nichts anderes wie
Suspendierung bedeutet, nur eleganter formuliert.
»Wolfgang Richter« konnte zu den Vorgängen noch nicht befragt werden, er
ist weiterhin nicht ansprechbar, und sein Zustand hat sich in den letzten
Stunden erheblich verschlechtert.
Der neue Tag ist längst angebrochen, die ersten Strahlen einer
morgendlichen Herbstsonne dringen durch die Fenster in das Bundeskanzlerbüro am
Ballhausplatz, und noch immer wird heftig über die weitere Vorgangsweise
diskutiert.
»Wer ist dieser Journalist Heinz Kokoschansky?«, fragt der Bundeskanzler.
»Was konnte bisher über ihn an Informationen eingeholt werden?«
»Der ist sehr lange im Geschäft«, klärt ihn der Generaldirektor für Öffentliche
Sicherheit auf, »war früher beim ORF, arbeitet aber seit Jahren nur mehr frei
und schreibt Bücher. Was er in den letzten Jahren aufdecken konnte, hatte immer
Hand und Fuß. Verfügt über beste Kontakte zu allen möglichen Kreisen und
Schichten.«
»Auch zur Mafia?« Die Innenministerin, noch nicht lange im Amt und eine
politische Quereinsteigerin, bleibt skeptisch.
»Denkbar ist es auf jeden Fall«, sagt der GD völlig wertfrei, »wenn er
tatsächlich der tolle Journalist ist, für den viele seiner Kollegen ihn halten,
durchaus.«
»Also, da möchte ich doch dagegensprechen«, meldet Katterka sich
energisch zu Wort, »ich glaube nicht, dass die `Ndrangheta, die Cosa Nostra
oder irgendeine Verbrecherorganisation auf einen Herrn Kokoschansky angewiesen
ist. Ein Kaliber wie Salvatore Madeo sprach nie, auch nicht in Italien und in
Deutschland, mit einem Journalisten. Das widerspricht dem Schweigegelübde, der
omertá. Abgesehen davon ist es wohl im Reich der Utopie anzusiedeln, dass ein
Mafiaboss einen Journalisten, ausgerechnet noch dazu einen Österreicher,
einlädt und so nah an sich heranlässt, ihn in seinem Hause wohnen lässt.«
»Vielleicht gehört er ja selbst dazu?«, wirft die Innenministerin ein.
Die Gedanken, die
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