Dunkle Seelen
schwer fassbaren Leichnam legten. Ihre Macht wurde immer stärker.
Die kleinen Wellen konnten ihr nichts entgegensetzen. Sie phosphoreszierten jetzt in Scharlachrot. Die Macht hatte ihren Körper inzwischen vollkommen verlassen und knisterte in der Meeresluft. Cassie holte tief Luft und zog den Leichnam mithilfe dieser unsichtbaren Kraft zu sich heran. Mühelos landete er am Ufer, wo sie ihn aus dem Wasser hob und wie einen nassen Sack auf den Sand fallen ließ.
»Verdammte Scheiße«, flüsterte Richard und klappte sein Handy zu.
Taumelnd schloss sie die Augen. Sie fühlte sich nicht schwach, aber ihr schwindelte. Sofort war Richard an ihrer Seite und griff stützend nach ihrem Arm. Dann half er ihr, das groteske Ding weiter auf den Strand zu ziehen. Sandkörner klebten an dem Körper, der eine tiefe Furche im Sand hinterließ. Als sie ihn nicht mehr weiterschleppen konnten, ließen sie ihn mit dem Gesicht nach unten fallen. Oder zumindest auf das, was sie für das Gesicht hielten, fuhr es Cassie durch den Kopf. Sie stand am Rand eines hysterischen Anfalls und wimmerte erneut. Die Anstrengung hatte sie vollkommen erschöpft und sie hatte eine Heidenangst davor, dem Ding in das, was von seinem Gesicht übrig geblieben war, zu sehen.
Richard hatte die Arme fest um ihre Schultern gelegt und drehte sie weg. »Verdammt noch mal, wie hast du das gemacht?«, hörte sie ihn erschrocken flüstern.
Er war nicht der Einzige, der sich das fragte. Hinter ihnen wurden Stimmen laut. Einige Auserwählte kamen aus der nahe gelegenen Akademie herbeigelaufen.
»Um Himmels willen.«
»Was ist das?«
»Du meinst, wer ist das...«
»Habt ihr gesehen, was sie...«
»Wie um alles in der Welt...«
»Genau wie in der verdammten Carnegie Hall. Was hat sie getan?«
»Was hat sie bloß getan?«
»Mein Gott...«
Wenn sie nicht bald den Mund hielten, würde sie einen von ihnen umbringen. In Cassies Augen brannten Tränen und sie hielt sich die Ohren zu, um den Lärm auszublenden. Sie versteckte sich sogar hinter Richard.
Doch plötzlich gab sie sich einen Ruck. Warum stehe ich einfach hier herum!, fragte sie sich.
Bevor Richard sie zu fassen bekam, rannte sie zurück zu dem ertrunkenen Leichnam und fiel neben ihm auf die Knie. Keuchend sog sie Luft in ihre Lungen, dann kreischte sie angeekelt auf und drehte das Ding auf den Rücken.
Nein. Nein, wie blöd konnte man sein. Natürlich war es unmöglich, den Toten wiederzubeleben. Da war kein Gesicht, das den Kuss des Lebens hätte empfangen können Es war nichts weiter übrig als unkenntliche, halbmenschliche Konturen. Tränen rollten ihr übers Gesicht und auf das, was einst lebendiges Fleisch gewesen war. Tränen der Trauer, aber auch der Erleichterung. Sie hatte es gewusst. So unkenntlich dieses Ding auch war, es war nicht Ranjit
Es sei denn, Ranjit Singh hätte Yusuf Ahmeds Anhänger getragen.
Cassie beugte sich vor, um den unverkennbaren goldenen Haifischzahn mit einem zittrigen Finger zu berühren. Doch ein scharfer Befehl ließ sie zurückschrecken.
»Fassen Sie ihn nicht an. Fassen Sie nichts an.«
Sie drehte sich um und sah durch einen Schleier aus Tränen und Macht eine vertraute Gestalt auf sich zukommen. Vor ihm teilte sich die Traube aus Schülern wortlos.
»Treten Sie zur Seite, Cassie«, sagte Sir Alric Dark.
Hinter ihm entdeckte sie Marat, den Portier, schweigsam und vierschrötig wie eh und je. Und genauso wie schon einmal zuvor trug er eine Plane über dem Arm. Als habe er auf diesen Moment gewartet.
Mit undeutbarer Miene schaute Sir Alric auf die Überreste von Yusuf hinab. Was empfand er, fragte Cassie sich: Mitleid? Trauer? Wut?
Es war nichts von alldem zu erkennen. Überhaupt nichts. Bis auf Verblüffung vielleicht.
»Hier gibt es nichts mehr zu sehen«, erklärte Sir Alric abrupt und wandte sich an die Zuschauer. »Ich habe die Behörden verständigt. Kehren Sie auf Ihre Zimmer zurück. Und versuchen Sie um Gottes willen, ausnahmsweise einmal auf sinnlosen Tratsch zu verzichten. Sie werden weitere Informationen erhalten, sobald ich Näheres erfahre.«
Die Menge zerstreute sich. Aber das Grauen und die Erregung, die sich über den Strand gelegt hatten, ließen sich nicht so leicht abschütteln. Cassie blieb, wo sie war, und starrte auf Yusuf hinab, bis Marat energisch an ihr vorbeitrat und die Plane über den Leichnam warf.
Die achtlose Geste erinnerte sie schmerzhaft an das, was mit Keiko geschehen war. Fürchterliche Reue durchzuckte sie, und sie
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