Dunkle Sehnsucht
spürte, wie eine weiteres Zorneswoge mich durchfuhr, gefolgt von einem beinahe überwältigenden Hungergefühl. »Sie sind noch hier, oder etwa nicht?«
»Kätzchen, deine Stimme ...«, sagte Bones ungläubig.
Etwas traf mich mit solcher Wucht, dass mir schwarz vor Augen wurde. Ich machte mich auf den Schmerz gefasst, der aber seltsamerweise nicht kam. Alle Geräusche klangen gedämpfter, abgehackt. Ich glaubte, Bones rufen zu hören, konnte mich aber nicht auf das konzentrieren, was er sagte, noch nicht einmal darauf, wo er war. Luftströme fegten immer heftiger an mir vorbei, sodass mir mein Sturz von der Brücke wieder einfiel, aber ich konnte unmöglich fallen. Ich war noch immer in dem Raum unter dem Friedhof, oder?
Ich sah Lichtblitze; silberne und weiße Strahlen, die so schnell an mir vorbeischossen, dass sie fast ineinander ver-schwammen. Mit Mühe konnte ich zwischen ihnen hin-durchspähen, aber es war, als würde ich alles aus weiter Entfernung betrachten. Ein langgezogenes Stöhnen drang aus meinem Mund, und ich registrierte geistesabwesend, dass es von den Stimmen von Menschen erfüllt war, die vor Jahr-zehnten, Jahrhunderten, ja sogar Jahrtausenden gestorben waren. Wie im Traum sah ich zu, dass Bones mich sacht auf den Betonboden niederlegte und Marie dann so heftig schlug, dass sie in die gegenüberliegende Zimmerecke flog.
»Diesen einen Schlag gewähre ich dir«, sagte sie, und ihre Worte schienen in meinem Kopf widerzuhallen, »aber nur diesen einen. Wirst du mir jetzt zuhören und tun, was nötig ist, um ihr zu helfen, oder willst du, dass ich dich umbringe und sie in den Fängen des Grabes zurücklasse?«
Ich konnte Bones' Antwort und Maries Entgegnung hö-
ren, aber irgendwie gingen ihre Worte in all den anderen unter, die so viel lauter waren als die menschlichen Gedanken, die ich sonst mit angehört hatte. Bones' Berührung allerdings entging mir nicht, als er sich zu mir kniete und mich hochhob. Seine Haut an meiner war ein Anker, an den ich mich inmitten des wirbelnden Chaos' um mich herum zu klammern versuchte.
Mir war so kalt. Ich war so leer. So HUNGRIG.
Als Bones mich aus dem Zimmer tragen wollte, hielt Marie ihn zurück und presste ihre Lippen an mein Ohr. Sie murmelte etwas, aber sie war nur eine Stimme unter Tausenden, ihre Worte wurden von dem Brausen in meinem Kopf davongetragen, bevor ihre Frage ganz zu mir durchdringen konnte. Bones zerrte mich weg, aber ich konnte noch ihre Lippen auf meiner Haut brennen spüren. Bones'
ausladende Schritte trugen mich in die Schwärze des Tunnels, an Jacques vorbei, als gäbe es den Ghul gar nicht. Meine Finger streiften im Vorübergehen die feuchten Wände, und ich sah gedankenverloren den Lichtspuren nach, die sie zu hinterlassen schienen. Das Licht wurde stärker, löste sich von den Wänden und griff mit gierigen Tentakeln nach mir, aber ich hatte keine Angst. Ich war traurig. Es waren so viele, die Ärmsten, und sie waren so hungrig ...
Metall kreischte, dann tauchte am Ende des Tunnels ein breiterer Streifen aus silbrigem Licht auf. Bones lief schneller und sprang direkt in das Licht hinein, und dann barst alles um mich herum. Die Stimmen wurden ohrenbetäubend, der kalte, alles auslöschende Hunger in mir unstillbar. Die Gefühle wurden stärker, bis es mir vorkam, als wollte ich mich aus einem seidigen Gespinst befreien, in das ich mich nur umso schlimmer verstrickte.
Das Erste, was ich wahrnahm, war Zigarettenrauch. Dann merkte ich, dass meine Arme steif waren und meine Handgelenke wundgescheuert. Ich öffnete die Augen und erblickte eine kahle graue Betondecke über mir und Bones' bleichen, nackten Leib zu meiner Rechten.
»Was?«, begann ich, wollte mich aufsetzen und spürte einen Zug an den Armen. Ich kippte den Kopf nach hinten, stellte schockiert fest, dass ich mit Handschellen an eine Wand gefesselt war, und erkannte dann, dass Bones und ich auf einem schmalen Bett lagen. Mein Blick ging wieder zu ihm, da fiel mir die Zigarette auf, die er absetzte und dabei eine lange weiße Rauchfahne ausstieß.
»Warum liegst du rum und rauchst, während ich hier festgekettet bin?«, wollte ich wissen.
In dem Blick, den er mir zuwarf, stand eine Mischung aus Erleichterung und Zynismus. »Du hast zwar keine Erinnerung an die letzten zwei Tage, aber lass mich dir versichern, Süße ... die Zigarette habe ich mir verdient.«
Zwei Tage ? Das Letzte, woran ich mich deutlich erinnerte, war, dass Bones mich aus Maries unterirdischem
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