Dunkle Spiegel
aber gerade selber schon ein! Warum?”
“Weil … weil wir eigentlich nicht viel über ihr Leben wissen. Nichts genaues.”
“Aber wir wissen doch, wer sie war, wie alt sie war, wo sie gearbeitet hat, was ihre Freunde und Vorgesetzten von ihr hielten.” Entgegnete ich mit einer ausladenden Handbewegung. “Wir wissen sogar, wie sie sich eingerichtet hat, welche Kleider sie im Schrank hat und welche Schuhgröße sie hat, oder?”
Jetzt grinste Ramirez breit. “Ich weiß, worauf du hinaus willst. Ja, es stimmt, wir wissen viel über sie - jedenfalls das, was sie andere glauben machen wollte! Das Allgemeine! Das Alltägliche. Aber über was wir wenig oder kaum etwas wissen, ist ihr zweites Gesicht, nicht wahr?”
“Genau, so ist es! Allein die Tatsache, dass wir wissen, dass sie versteckte Neigungen hatte, die sie möglicherweise für den Mörder irgendwie interessant gemacht hat, zwingt uns zu einer völlig neuen Betrachtungsweise. Deshalb sind wir jetzt hier!”
“Also sollen wir uns diese Wohnung einmal aus ihrer Sicht ansehen?”
“Mehr noch als das, wenn möglich. Wir sollten uns ganz in ihre Situation versetzen. Wir müssen ein kleines Stück ihres Lebens revue passieren lassen. Sieh dich doch mal um. Das ist eine große Wohnung und sie ist geschmackvoll eingerichtet. Was mir besonders gefällt, ist die Tatsache, dass sie nicht zu voll gestellt ist. Es gibt zahlreiche und wohldurchdachte Freiräume zwischen den einzelnen Möbelstücken. Ich bin sicher, dass uns ein Psychologe diese Freiräume mit Freiräumen für Denken und Fühlen gleichsetzen würde. Jemand der sich schützen möchte, oder wer sich vor allen anderen verstecken will, der stellt sich seine Wohnung, die zudem meistens noch klein und sehr übersichtlich - also kontrollierbar - ist, mit vielen Möbeln und Kleinigkeiten zu. Eine Schutzfunktion, die eigentlich für jeden sichtbar ist, aber kaum von jemandem wahr genommen wird.”
“Klingt bis jetzt einleuchtend. Also gut, Doktor Freud, was verrät uns die Wohnung noch?”
“Sieh dich doch mal um. Versetze dich in ihre Lage. Sieh die Wohnung mit ihren Augen.” Ramirez stand auf und drehte sich einmal um sich selbst. Dann schloss er kurz die Augen, atmete tief ein und sah sich noch einmal um.
“Es ist sehr sauber. Selbst jetzt, nachdem die Spurensicherung und weiß Gott wer noch hier waren, ist es absolut sauber - wie ihre Akte.”
“Ihr offizielles, alltägliches Gesicht.” stimmte ich zu. Ramirez setzte sich an den Computertisch, wo noch zuvor der Laptop gestanden hatte.
“Ich stelle mich jetzt vor, es wäre Samstag, ich hätte keinen Freund und wäre allein, draußen ist es dunkel … ich würde sagen, dass mir noch ein paar Kerzen fehlen. Dann würde ich mich vielleicht noch wohler fühlen. Ein Hauch von Romantik?”
“Ein sehr guter Gedanke.” Ich beugte mich neben Ramirez hinab, so dass ich die Oberfläche des Tisches überblicken konnte und strich mit der flachen Hand vorsichtig darüber. “Hier! Da ist doch etwas! Richte mal bitte mal die Lampe darauf!”
Im Licht der Glühbirne sahen wir in einem Halbkreis eindeutige Rückstände von…
“Kerzenwachs!” rief Ramirez aus. “Aber wo sind die Kerzenständer?”
“Die Spurensicherung hat alles so gelassen, wie es war - also müssten sie vorher weggeräumt worden sein. Aber von wem? Von ihr selbst? Dann wäre es bei der hier herrschenden Ordnung mehr als merkwürdig, dass sie vergessen haben könnte, das Wachs vom Tisch wieder zu entfernen. - Hat er sie weggeräumt? Dann würde das heißen, dass er sich tatsächlich gut in dieser Wohnung ausgekannt haben muss. Denn wenn er sie einfach nur weggenommen und irgendwo untergestellt hätte, wäre das in dieser schönen Ordnung garantiert aufgefallen!”
“Also noch mal. Ich bin allein, habe keinen Freund, es ist Samstagnacht, habe Kerzen aufgestellt - ich will eine bestimmte Atmosphäre erzeugen. Sie macht das so häufiger. Sie chattet dann. So auch an diesem Samstag. Und dann?”
“Es gibt zwei Möglichkeiten…”
“Tja, also entweder hatte ich wirklich nur vor zu chatten - dann schalte ich den Computer aus und gehe danach ins Bett, oder sehe vorher noch fern, lese ein Buch oder sonst was.”
“Wärst du damit zufrieden?” fragte ich nachdenklich.
Ramirez zögerte zunächst, dann brummte er: “Eigentlich nicht. Ich hatte da ja jemanden kennengelernt, diesen jungen Mann. Oliver McLucky. Der war zwar nett und freundlich - konnte mir aber nicht das geben, was
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