Dunkle Tage, helles Leben - Best Love Rosie
irgendwo? Für den Kosmos hätte das doch keinen großen Unterschied bedeutet. Wieso bin ich nicht reich und schön und berühmt, weshalb werde ich nicht von großen, gut aussehenden Männern umworben, die lange Mäntel aus feinem Tuch tragen und gepflegte silbergraue Haare haben, die sich in ihrem schön modellierten Nacken sympathisch locken? Männer à la Placido Domingo. Warum kann ich nicht die Art Frau sein, in die Rilke sich verliebt hätte? Immer im Pelzmantel und auch sonst absolut genial. Mit einem Schloss. Diese Frauen müssen sich nicht um ihre alten Tanten kümmern. Rilke musste sich auch nicht um seine Tante kümmern, er weigerte sich sogar, für seine eigene Mutter zu sorgen. Im Vergleich zu den Leuten, die keine andere Wahl hatten, als ihre betagten Verwandten zu beaufsichtigen, hatte Rilke es wirklich gut gehabt. Ein Thema, das in der Literatur so gut wie gar nicht vorkam, obwohl doch fast alle Leute davon betroffen waren. Darüber schrieb keiner etwas. Und schon gar keine Literatur.
Ich war im Internet zufällig auf etwas gestoßen, was mich sehr beschäftigte: eine Liste mit guten Vorsätzen, die einem helfen sollten, besser mit Depressionen fertigzuwerden. Man musste sich nur daran halten. Also druckte ich sie aus und brachte die
Liste zu Min nach oben, zusammen mit einer Tasse Tee und einem Stück des spanischen Gewürzkuchens, den Reeny gebacken hatte. Es war kuschelig warm in Mins Schlafzimmer. Sie hatte ja eine neue Gasheizung. Die Vorhänge waren geschlossen, um die Winternacht draußen zu halten. Von ihrem Körbchen auf der Frisierkommode verfolgte Bell jede unserer Bewegungen mit gespannter Aufmerksamkeit, und das Transistorradio auf Mins Kopfkissen plapperte vor sich hin.
Ich begann. »Also. Regel Nummer eins. Ich konzentriere mich auf meine Stärken und nicht auf meine Schwächen. «
»Dagegen ist nichts einzuwenden«, sagte Min nach einer kurzen Pause. »Aber welche Schwächen meint die Person, die das geschrieben hat?«
»Na ja, jeder Mensch hat seine Schwächen«, antwortete ich. »Du doch auch, oder?«
Wieder folgte eine Pause, diesmal eine etwas längere.
»Ich nehme nicht an, dass sie mit ›Schwächen‹ solche Sachen meint wie – na ja, dass ich zum Beispiel gern viel Butter zu den Kartoffeln gebe. Stimmt’s?«, fragte Min etwas unsicher.
»Nein, das wohl eher nicht. Aber wir können das ja erst mal so stehen lassen und uns Regel Nummer zwei ansehen. Ich frage mich jeden Tag: ›Was brauche ich?‹ – und dann unternehme ich einen Schritt in diese Richtung. «
»Das ist hervorragend!«, rief Min enthusiastisch. »Wenn ich zum Beispiel Bell zum Tierarzt bringen muss, dann kann ich dich bitten, ihn anzurufen und einen Termin auszumachen, weil ich das brauche .«
»Fehlt Bell denn etwas?«
»Nein, nein, es geht ihr gut – nicht wahr, Bella? Verkriech dich nicht unter der Decke, Bella. Komm her, damit ich dich sehen kann.«
»Der nächste Punkt ist Ich mache mir eine Liste mit Dingen, die ich mag, und gönne mir jede Woche etwas .«
»Ach, dazu fällt mir gleich etwas ein«, sagte Min. »Ich überlege mir nämlich schon lange, ob ich nicht lieber woanders in die Kirche gehen soll als hier in Kilbride. Ich kann diesen Pater Simms nicht ausstehen. Wenn ich woanders in die Kirche gehe, würde ich mir ja einmal in der Woche etwas gönnen.«
»Okay«, erwiderte ich vorsichtig. »Gar nicht schlecht. Das ist doch schon mal ein Schritt in die richtige Richtung. So, und jetzt Nummer vier. Ich gestehe mir mein Nichtwissen ein, steht da.«
»Welches Nichtwissen?«, fragte Min kampflustig. »Ich weiß doch, was ich weiß.«
»Was weißt du?«
»Viel. Auch wenn ich mit vierzehn von der Schule abgegangen bin.«
»Das hast du mir schon mindestens fünfhundertmal erzählt, Min.«
»Aber das heißt noch lange nicht, dass ich nichts weiß.« Jetzt wirkte sie eher bedrückt.
»Min!«, rief ich. »Hat das denn irgendjemand behauptet? Du kannst zum Beispiel die schwierigsten Kreuzworträtsel lösen, und du hast mir immer ganz fantastische Briefe geschrieben. Aber egal – der letzte Punkt lautet: Ich sage öfter Nein – zu mir selbst, aber vor allem zu anderen. «
»Nein«, sagte Min.
»Nein – was?«
»Nein zu dem Idioten, der diese Regeln geschrieben hat. Nein, die taugen nichts. Nein, ich halte mich an keine einzige von diesen Regeln.«
»Sehr gut!« Ich tanzte um ihr Bett herum. »Weiter so, Tante Min.«
In dem Moment begann eine Kirchenglocke zu läuten, um das neue
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