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Dunkle Tage, helles Leben - Best Love Rosie

Titel: Dunkle Tage, helles Leben - Best Love Rosie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nuala O'Faolain
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Min, als wir durch die graue Stadt gingen. »Wenn man die Sprache nicht spricht, kann man genauso gut in Kilbride bleiben.«
    Und dann – ja genau! Was hatte sie damals als Nächstes gesagt? »Die einzige Sprache, die ich beherrsche, ist Englisch. Deshalb kann ich eigentlich nur in ein Land reisen, das weit weg ist – nach Amerika.«
     
    Ich machte es mir mit meinem Proust auf dem weißen Sofa gemütlich. Eine Taube saß auf einem Vorsprung gleich unter
dem Fenster, plusterte ihr Gefieder und beäugte mich misstrauisch. Im Licht der Straßenlaterne konnte ich den leeren Platz gegenüber vom Hotel sehen. Hinter dem Zaun schleifte der Obdachlose etwas über den rissigen Boden, zu der Stelle, wo neben dem Feuer ein Bündel aus Bettzeug lag, so unordentlich wie das Nest einer Elster. Über den hohen Gebäuden auf der anderen Seite des Flusses zogen sich Regenwolken zusammen. Noch waren sie hell, aber ich konnte beobachten, wie sie sich nach und nach grauschwarz verfärbten. Dann verschwanden die Lichter drüben am Ufer, und über den unruhigen Fluss hinweg kam das Unwetter auf mich zu. Wie gebannt verfolgte ich das Schauspiel, bis die ersten Tropfen an mein Fenster trommelten. Als der Regen nachließ, sah ich durch das nasse Glas die Lichter von New Jersey blinken, und sie funkelten noch heller als zuvor.
    Allmählich hatte ich mich wieder ein wenig beruhigt. Ich holte meinen Notfall-Apfel aus dem Geheimfach in meinem Koffer und verspeiste ihn genüsslich, während ich las, wie der Erzähler das erste Mal Saint-Loup sah. Dann putzte ich mir noch einmal die Zähne und ging wieder ins Bett. Diesmal zog ich in Gedanken respektvoll den Hut vor Min.
     
    Am Terminal 4 war gerade irgendeine Karnevalsgesellschaft eingetroffen, oder vielleicht reisten die Leute auch ab – jedenfalls war Min, als sie durch die automatische Tür der Ankunftshalle kam und das erste Mal amerikanischen Boden betrat, sofort umringt von einem Schwarm merkwürdiger Gestalten: kleine Kinder in Maus-Kostümen, Erwachsene mit Pelzschwänzen und glitzernden Masken, außerdem mehrere menschliche Bären, die lilafarbene Feen auf dem Rücken trugen. Min wirkte selbst so klein und niedlich, als wäre sie eine Elfe. Ich sah, wie sie stehen blieb und verwundert einem entflogenen Luftballon nachschaute, der jetzt unter dem Glasdach schwebte und ab und
zu dagegenstieß. Sie war so ganz ihr normales, gewöhnliches Selbst, dass sie in dieser fremden Umgebung absolut ungewöhnlich wirkte in ihrem uralten schwarzen Pullover, den sie immer mit stolz gespitzten Lippen als ihr »bestes Stück« bezeichnete. Sie verfügte über ein gewisses Repertoire typisch weiblicher Gesten: der kritische Blick, mit dem alle Frauen ein Kleidungsstück begutachten, das süßliche Gezwitscher, mit dem sie sich über ein fremdes Baby beugen, oder die strenge Miene, mit der sie den Händler mustern, der am Marktstand die Tomaten für sie auswählt. Mir war bewusst, dass ich diese Muster zu einem gewissen Grad von Min übernommen hatte. Aber wo hatte sie selbst diese Strategien gelernt?
    Sie blieb schon wieder stehen. Diesmal schaute sie sich nach einem korpulenten schwarzen Mann um, der in der Brusttasche seines Jacketts ein orangerotes Kätzchen spazieren trug. Er unterhielt sich mit einem anderen Mann, als wäre das Kätzchen gar nicht da, während das kleine Tier neugierig den Kopf nach rechts und nach links drehte, um seine Umgebung zu studieren. Min konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Reglos, schutzlos stand sie da. Wie ein kleines Kind. Ihre Haare, die oft platt gedrückt waren, weil sie dauernd im Bett lag, hatte sie jetzt kunstvoll hochgesteckt. Ihr Haar war zwar von vielen silbergrauen Strähnen durchzogen, aber immer noch so dicht und üppig, dass ihre Frisur viele bewundernde Blicke auf sich zog. Trotz ihrer Verlorenheit wirkte Min gleichzeitig auch sehr rüstig und robust, mit ihrer vollgepackten Einkaufstasche in der Hand und dem uralten schwarzen Mantel, der immer nach Mottenkugeln roch, über dem Arm.
    Drei munter trippelnde junge Frauen kreuzten ihren Weg, ihre Stewardessen-Köfferchen anmutig hinter sich her ziehend.
    »Minnie!«, rief ich. »Min!« Sie schaute sich um, ohne jede Hektik. Obwohl sie ihre Umgebung so intensiv in sich aufnahm, wirkte sie ganz gelassen.

    »Ich wollte mein Geld in der Unterhose verstauen, Rosie«, begann sie ohne jede Begrüßung. »Aber dann habe ich mich mit einer irischen Dame unterhalten, die hier in Amerika lebt, und die hat

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