Dunkle Tage, helles Leben - Best Love Rosie
konnte ich im Gips Markierungen erkennen. Aber nur in dieser Ecke, sonst nirgends. Ich kauerte mich nieder, um sie näher zu betrachten. Es waren Striche, immer ein Bündel aus sechs Strichen, die mit einer diagonalen Linie durchgestrichen waren. Nach vier Bündeln kam dann immer noch eines, das nur aus vier vertikalen Linien bestand, die ebenfalls durch eine diagonale durchgestrichen waren. Achtundzwanzig Tage in jeder Gruppe.
Ich brauchte nicht lange herumzurätseln – ich wusste gleich Bescheid. Ich wusste Bescheid, weil ich ja gerade an den Steinbruch in Mauthausen gedacht hatte und an den Horror, der dort in der Luft gelegen hatte, wo die Gefangenen arbeiten mussten, bis sie tot umfielen oder bis ein sadistischer Aufseher sie aus einer Laune heraus abknallte. Ein leises Echo dieses Horrors ging auch von den Markierungen aus. Auch sie hatten etwas mit Verzweiflung zu tun – sie waren tief in den Gips gekratzt, nicht nur leicht eingeritzt. Sie stammten von einer Frau, die
Angst gehabt hatte. Die Mutter meiner Mutter war die erste Frau hier gewesen, sie war die Ehefrau, für die mein Großvater das Haus gebaut hatte. Ich wusste kaum etwas über sie. Nur dass sie an einer Blinddarmentzündung gestorben war, als meine Mutter fünfzehn war und Min etwa zehn – viel mehr nicht. Min besaß kein Foto von ihr. Meines Wissens war nichts über sie bekannt. Weder ihr Mädchenname noch wie alt sie war bei ihrem Tod. Sie hatte das gleiche Schicksal wie die meisten Frauen auf diesem Planeten: Von ihr war nichts zurückgeblieben, nur ihre Kinder.
Ihre Tochter Min.
Und ihre Enkelin Rosaleen Barry. Ich legte die Handflächen auf meine warmen Wangen. Das war ich. Sie hatte mich zurückgelassen.
Dieser Kalender – bestimmt hatte sie ihn erstellt. Selbst in einem so entlegenen Winkel der Erde und in dem trostlosen Elend, das in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts hier geherrscht haben musste, wusste eine Frau, dass es Tage gab, an denen sie fruchtbar war, und Tage, an denen sie nicht empfangen konnte. Wahrscheinlich wollte sie auf keinen Fall noch einmal schwanger werden. Oder war genau das Gegenteil der Fall gewesen? Vielleicht wollte sie nach zwei Mädchen unbedingt ausrechnen, wann sie fruchtbar war, weil in einer Ortschaft wie Stoneytown eine Frau ohne Sohn nicht viel zu melden hatte. Ich kannte viele Gegenden der Welt, wo Frauen, die keinen Sohn geboren hatten, aus der Gesellschaft ausgestoßen wurden.
»Wofür ist Min eine Abkürzung?«, fragte ich als Kind einmal meine Tante. Und sie sagte: »Für Minute – du hast nämlich noch genau eine Minute, um deine Hausaufgaben fertig zu machen.«
Ein paar Jahre später fragte ich sie noch einmal.
»Für Marinda«, antwortete sie. »Ich heiße richtig Marinda Connors.«
»Aber Marinda gibt es doch gar nicht. Nur Miranda.«
Sie nickte. »Stimmt. Sie haben sich vertan. Das hat man mir jedenfalls gesagt.«
»Wer hat sich vertan?«
»Die Frauen. Meiner Mutter ging es gar nicht gut im Krankenhaus in Milbay, und die Frauen von der Insel haben sie geholt, aber ich musste erst noch getauft werden, bevor man mich aus dem Krankenhaus rausließ. Sie wollten mich Miranda nennen, aber irgendwie haben sie’s nicht richtig hingekriegt. Sie haben sie im Kino gesehen, Carmen Miranda.«
»Ich dachte immer, ein Kind muss entweder einen Heiligennamen oder einen irischen Namen haben, sonst wird es vom Priester nicht getauft.«
»Na ja, vielleicht hieß ja die Muttergottes Marinda. Klingt doch fast wie Maria.«
Ich dachte, damit sei die Geschichte zu Ende, doch dann rief Min: »Das war doch auch völlig egal! Kein Mensch hat sich darum gekümmert, wie ein Mädchen heißt. Man hat sowieso nie den ganzen Namen gesagt.«
Die Person, die diese Striche gemacht hatte, wollte die Kontrolle über die Vorgänge in ihrem Körper behalten. Was für eine Aussage in einer Gesellschaft, in der die Männer alles bestimmten, in der die Männer das Essen ins Haus brachten und die Toten hinaustrugen! Ich wollte eines der Bündel berühren, als eine Geste des Respekts.
Doch meine Hand zuckte zurück.
Sie konnten nicht von meiner Mutter stammen, oder? Sie war fünfzehn gewesen, als sie von Stoneytown ausriss. Warum hätte sie versuchen sollen, ihren monatlichen Zyklus zu beobachten? Oder Min?
Nein.
Ich horchte auf das Seufzen des Meeres. Die Markierungen schienen in der Ecke zu lodern.
Wir hätten genauso gut körperlose Geister sein können, Min und ich, so wenig hatten wir uns
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